1.
Eine Tür im Schnee
Die Welt stand still.
Dunkelgraue Wolkenmassen türmten sich am Himmel, ebenso in der Bewegung verharrt wie die Myriaden Schneeflocken, die in der Luft hingen, als wäre ein Blizzard unter seiner eigenen klirrenden Kälte eingefroren. Selbst das Glitzern der Lichtreflexe auf der unendlichen Ebene hätte an zahllose erstarrte Sterne in einem Universum aus Eis und Schnee erinnert, wenn es in dieser im Augenblick gefangenen Welt jemanden gegeben hätte, der diesen Vergleich anstellen könnte. Jemanden, der seine Umwelt bewusst wahrnehmen und über sie nachdenken konnte.
Doch dazu war Anzu Gotjian nicht fähig. Zwar spürte sie die beißende Kälte auf der Haut und in ihrem Inneren, fragte sich aber nicht, wie sie an diesen Ort gekommen, wie sie in diese Situation geraten war. Und schon gar nicht überlegte sie, wie sie sich daraus befreien sollte, ehe sie erfror.
Der allgegenwärtige Frost war nicht das Einzige, was sie fühlte, ja, nicht einmal das Vorherrschende. Den weitaus größten Raum nahm eine ungekannte ... Offenheit ein. Auch sie hinterfragte Anzu nicht. Hätte sie es getan, wäre sie vermutlich in Panik verfallen, denn sie hätte sie als das Ergebnis ihres daueraktiviertenFernblicks identifiziert. Anders als sonst fixierte er nicht ein entferntes Ziel, sondern wies gleichzeitig in viele Richtungen.
Da sie jedoch keines bewussten Gedankens fähig war, flossen die Bilder, die Eiseskälte und die damit verbundenen Emotionen in sie ein, durchströmten sie – und traten wieder aus, ohne Erinnerungen zu hinterlassen. Kenntnisse über den Aufbau des Chaoporters bis in den kleinsten Winkel, sonst gut verborgene Geheimnisse über dessen Stärken und Schwächen, über die Besatzung, die ihn bewohnenden Völker, über vergangene und künftige Zertifikate und sogar über Daten und Details, die den Chaotarchen vorbehalten waren. Aber auch Kosmokratenwissen durchfloss sie, Wissen über das kobaltblaue Walzenschiff und dessen Historie, den Bordrechner, den Kommandanten.
Anzu war eins mit FENERIK und der LEUCHTKRAFT, eins mit der Kluft, dem Limbus und dem Bathos – und konnte doch keinen Profit daraus schlagen. Sie versuchte es nicht einmal. Freilich hätte sie selbst unter normalen Umständen keinen Nutzen daraus ziehen können, denn die Fülle an Informationen und einem menschlichen Geist unbegreiflichen Bildern hätte ihr binnen Sekunden den Verstand geraubt. Ihre vermeintliche Schwäche schützte sie, und sie wusste es nicht einmal.
So verging die Zeit in einer zeitlosen Welt. Ungemessen, unbemerkt. Bis eine Schneeflocke auf Anzus Augapfel landete. Und noch eine.
Ein erster Gedanke stemmte sich gegen die Erstarrung und schob sich träge in Anzus erwachendes Bewusstsein.
Wo?
Ein zweiter folgte ...
Was?
... während der erste anwuchs.
Wo bin ich?
Sie blinzelte die Schneeflocken weg.
Die gefrorene Welt geriet in Bewegung, taute allmählich auf. Immer mehr Flocken fielen, berührten Anzus nackte Haut, ließen sie erschaudern.
Für einen kaum wahrnehmbaren Moment bemerkte sie den allumfassenden Fernblick, sah das Bild zweier verschränkter Hände, da erlosch er auch schon und hinterließ Erleichterung in ihr, aber zugleich den schalen Geschmack einer verpassten Chance.
Warum bin ich nackt?
Sie sah an sich hinab. Als wohnte Frage und Blick eine schöpferische Kraft inne, verschwammen die Konturen ihres Körpers. Weiche, natürliche Formen wichen den kantigeren eines SERUNS. Das Gefühl von Schneeflocken auf der Haut verschwand, das von Kälte und Schutzlosigkeit hingegen blieb.
Sie b