: Andreas Neider
: 'Bodhisattvaweg' und 'Imitatio Christi' im Lebensgang Rudolf Steiners Eine esoterisch-biografische Studie
: Verlag Freies Geistesleben
: 9783772545733
: 1
: CHF 15.10
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: Anthroposophie
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
In seinem Hauptwerk zum anthroposophischen Schulungsweg, Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, hat Rudolf Steiner die Begegnung mit dem sogenannten 'großen Hüter der Schwelle' beschrieben. Dabei geht es um eine Entscheidung, die der Geistesschüler, der auf der höchsten Stufe seiner Entwicklung angekommen ist, treffen muss: Wird er sich fernerhin nicht weiter inkarnieren, weil er das nicht mehr nötig hat, oder wird er sich unter Verzicht auf den eigenen Vorteil weiterhin inkarnieren, zugunsten der Weiterentwicklung aller anderen Menschen? Die oben gekennzeichnete Frage des 'großen Hüters' wird im Buddhismus als die Bodhisattva-Frage bezeichnet. Woher rührte dieser buddhistische Einfluss im Werk Rudolf Steiners und wie hat sich diese Bodhisattva-Frage in der späteren Darstellung im Hauptwerk Rudolf Steiners, Die Geheimwissenschaft im Umriss, weiterentwickelt? Zunächst wird auch geklärt, was für ein Wesen dieser 'große Hüter' eigentlich ist und welche Bedeutung er für die Entwicklung des Menschen auf dem anthroposophischen Schulungsweg hat. Woher kam der buddhistische Einfluss im Werk Rudolf Steiners? Ist Steiner selbst den Weg eines Bodhisattva gegangen? Das sind nur zwei der zentralen Fragen, mit denen sich dieses Buch beschäftigt. Dabei entsteht ein neues, bereicherndes Verständnis für den Lebensgang und die Individualität Rudolf Steiners.

Andreas Neider, Jahrgang 1958, studierte Philosophie, Ethnologie, Geschichte und Politologie. 17 Jahre war er im Verlag Freies Geistesleben tätig, zunächst als Lektor und dann als Verleger. Seit 2002 leitet er die Kulturagentur 'Von Mensch zu Mensch'. 2015 begründete er mit die Akanthos-Akademie Stuttgart e.V. Er ist Referent für Anthroposophie, Meditation und für Medienpädagogik in der Jugend- und Erwachsenenbildung.

3.
Der Bodhisattva-Weg inDie Stimme der Stille von H. P. Blavatsky


Wie die meisten ihrer Schriften, so bezeichnete H. P. BlavatskyDie Stimme der Stille als eine «Übersetzung» von Texten, die ihr in physischer Form niemals vorgelegen haben. Andererseits war der hoch poetisch verfasste Text aber auch keine Dichtung im herkömmlichen Sinne, sondern sie gab damit mehrere innerlich «gelesene» bzw. «gehörte» Texte orientalischen Ursprungs wieder, die sie mit Hilfe ihrer geistigen Schauungen ins Englische übertrug. Die Qualität ihrer «Übersetzungen» ließ sie während des Schreibens in Fontainebleau bei Paris im Juli 1889 von ihrer Mitarbeiterin Annie Besant fortwährend überprüfen.40

Die in kurzer Zeit 1889 verfasste, letzte Schrift von H. P. B. verhalf der Theosophie zu neuem Ansehen und beeindruckte sogar den amerikanischen Religionsphilosophen William James, derDie Stimme der Stille in seinen einflussreichen, 1901/02 in Edinburgh gehaltenen Vorlesungen über «Die Vielfalt religiöser Erfahrung» als Beispiel für eine moderne mystische Erfahrung ausführlich zitierte und im Hinblick auf ihre Form als eine Art «musikalischer Komposition» würdigte.41 Der deutsche Theosoph und Blavatsky-Begleiter Franz Hartmann42 übersetzte die Schrift ins Deutsche, und sie erschien in mehreren Auflagen, die allerdings durch die umfangreichen und zum Teil längeren Anmerkungen Hartmanns umständlicher zu lesen ist als das englische Original, in dem es nur wenige Anmerkungen Blavatskys gibt.43 Das war vor allem darauf zurückzuführen, dass der Text zahlreiche indische, für den Laien nicht verständliche Ausdrücke enthielt, die für die westlichen Leser ohne Erklärungen unverständlich bleiben mussten.

Der vollständige Titel von Blavatskys Schrift lautete:Die Stimme der Stille. Auszüge aus dem Buch der goldenen Lehren. Der Untertitel, den Hartmann nicht übersetzt hat, lautete:Für den täglichen Gebrauch der Lanoos (Schüler). Und dann hieß es: «Übersetzt und aufgeschrieben von H. P. Blavatsky». Auch das kürzte Hartmann ab, indem er einfach schrieb: «Herausgegeben von H. P. Blavatsky». Sie verstand ihre Schrift jedoch als eine «Übersetzung» des von ihr okkult erforschten und «gelesenen»Buches der goldenen Lehren. Ihre «Übersetzung» umfasste «drei Auszüge»:Die Stimme der Stille, Die zwei Wege undDie sieben Pforten.

Blavatsky unterschied grundsätzlich zwei Formen des Buddhismus und der indischen Lehren: einen exoterischen oder südlichen Buddhismus und einen esoterischen oder nördlichen Buddhismus, den sie mit dem tibetischen Buddhismus gleichsetzte. Heute würde man mit der gebräuchlichen religionswissenschaftlichen Terminologie von dem, was Blavatsky als exoterischen Buddhismus bezeichnete, als Theravada-Buddhismus sprechen. Damit werden die heute noch vorhandenen ursprünglichen Formen des Buddhismus, vor allem auf Sri Lanka, in Myanmar und Thailand bezeichnet. Und den «nördlichen», esoterischen Buddhismus würde man heute als Mahayana-Buddhismus bezeichnen, wobei man den tibetischen Buddhismus als eine dritte Form, nämlich den sogenannten tantrischen Buddhismus davon deutlich unterscheidet.44

Jedenfalls ging Blavatsky in ihrer Schrift generell von dem von ihr sogenannten «nördlichen» bzw. «esoterischen» Buddhismus aus. In ihrer Vorrede erging sie sich zunächst länger über die (fiktive) Herkunft desBuches der goldenen Lehren und betonte, dass sie daraus nur die Teile entnommen habe, die für die Schüler der Theosophischen Gesellschaft von Bedeutung seien. Dabei fügte sie gleich zu Beginn hinzu, dass es bei diesen wie bei allen indischen Lehren immer um das Abtöten des sinnlichen Begehrens, ja alles Sinnlichen überhaupt ginge, ohne dass das «höhere Selbst» des Menschen sich nicht entfalten könne. In diesem Sinne g