1. KAPITEL
„Rosie! Hörst du mir zu?“
In der energischen Stimme schwang eine Mischung aus Verzweiflung, Ungeduld und Zuneigung. Schuldbewusst wandte Rosie den Blick von dem lebhaften Geschehen im Foyer ab. Dort herrschte ein reges Kommen und Gehen. Gäste trugen Skier über die Schultern und freuten sich sichtlich darüber, dass sie die schöne Vorweihnachtszeit hier im Urlaub verbringen konnten.
Das luxuriöse 5-Sterne-Resort – ein Juwel inmitten der Dolomiten in der Region Venetien im Norden Italiens – war die beste Unterkunft, die man für sein Geld bekommen konnte. Seit sie denken konnte, war dieses Hotel für Rosie und ihre Familie wie ein zweites Zuhause gewesen. Sie kannte jeden Winkel und konnte selbst mit geschlossenen Augen alles genau vor sich sehen – jede glänzend polierte Holzdiele, jedes quirlige Muster im Marmor, jedes Detail des in zeitlosem Grau gehaltenen Innenpoolbereichs sowie die übergroßen Kronleuchter an der Decke des Sternerestaurants.
Im Moment saß Rosie mit einer Tasse Milchkaffee oben in der Galerie und genoss einen perfekten Ausblick auf den sechs Meter hohen Weihnachtsbaum, der neben dem Empfang emporragte und der geschmackvoll in Pink- und Elfenbeintönen geschmückt war. Die winzigen Kerzen der Lichterketten brachten den Baum zum Strahlen, und Rosie konnte den Duft der Tannennadeln geradezu riechen.
„Natürlich höre ich dir zu“, sagte sie mit einer angemessenen Portion Aufrichtigkeit und Interesse. Ihre Schwester, die ihr gegenübersaß, war kurz davor, wieder einen ihrer schweren, tiefen Seufzer auszustoßen. „Du hast gefragt, was ich vorhabe, wenn die Skisaison vorbei ist. Ichweiß es nicht, Diss. Gerade genieße ich es einfach, Skilehrerin zu sein. Es macht mir Spaß. Ich treffe sehr nette Leute. Und außerdem passe ich auf Mum und Dads Chalet auf, während ich hier bin. Ich passe auf, dass dort … äh … nicht eingebrochen wird … oder so …“
„Weil es hier in Cortina Einbrecher gibt wie Sand am Meer?“
„Wer weiß, vielleicht?“
„Rosie, du kannst nicht für immer von Ort zu Ort ziehen und ständig den Job wechseln. Du wirst bald vierundzwanzig und Mum und Dad … Nein, wiralle – ich, Emily, Mum, Dad –, wir machen uns Sorgen, dass du nicht sesshaft wirst, dass du erst gar nicht versuchen willst … du weißt schon …“
„Buchhalterin zu werden? Eine Hypothek aufzunehmen? Einen anständigen Mann zu finden, der für mich sorgt?“ Rosie wurde rot und sah weg. Auf das Thema Männer reagierte sie besonders sensibel, und sie wusste, dass es ihren Eltern im Grunde genau darum ging. Sie machten sich Sorgen, dass Rosie nie den Richtigen finden würde, im Gegensatz zu ihren beiden Schwestern. Dass Rosie sich ihr Leben lang die Falschen aussuchen und sich ausnutzen lassen würde. In der Vergangenheit hatte sie tatsächlich mehrmals diese Erfahrung machen müssen. Und obwohl sie nach jeder Enttäuschung gute Miene zum bösen Spiel gemacht hatte, hatte es doch jedes Mal wehgetan.
Mittlerweile war es ihr egal, ob sie jemals wieder eine Beziehung haben würde oder nicht. Der letzte Mann, mit dem sie ausgegangen war, war ein Reisegefährte in Indien gewesen. Dieser hatte dort billige asiatische Handwerkskunst erworben, die er auf einem Markt irgendwo in der Nähe von Aldershot gewinnbringend weiterverkaufen wollte. Sie hatten eine schöne Zeit zusammen verbracht, bis es ihm eine große Brünette angetan hatte, mit der er dann verschwunden war. Zurückgelassen hatte er nur eine hingekritzelte Entschuldigung auf einem Notizzettel.
Zumindest hatte Rosie trotz all dieser Enttäuschungen nichts zu bereuen – sie war mit keinem der Männer ins Bett gegangen. Außer mit diesem einen, der vor vielen Jahren ihr Herz gebrochen hatte. Sie hatten sich kennengelernt, als Rosie neunzehn war und gerade versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, nachdem sie ihr Studium an der Universität abgebrochen hatte. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort fing er sie auf, als sie zu fallen drohte. Er war Biker und erfrischend unkonventionell. Ganz anders als die Jungen aus der schicken Oberschicht, die Rosie sonst immer traf. Sie hatte alles an ihm geliebt, von seinen Tattoos bis zu seinem Ohrring.
Er hingegen hatte das Vermögen ihrer Familie letztendlich mehr geliebt als Rosie selbst und war außer sich gewesen, als sie ihm mitteilte, dass sie ihr Erbe für ihn aufgeben wollte. Noch immer schauderte sie innerlich bei dem Gedanken daran, fast den größten Fehler ihres Lebens begangen zu haben. Seitdem genoss sie einfach das Hier und Jetzt, ohne sich jemals zu sehr auf etwas oder jemanden einzulassen.
„Wer sagt denn, dass du Buchhalterin werden sollst?“ Candice verdrehte die Augen und grinste. Rosie grinste zurück, denn der Mann ihrer Schwester Emily, so wunderbar er auch war, konnte etwas langweilig sein, wenn er begann, von Wechselkursen und Investitionsmöglichkeiten