Kapitel
zwei
Manchmal starrt sie sich minutenlang im Spiegel an. Zumindest nimmt sie an, dass Minuten verstreichen. Vielleicht auch Sekunden. Oder Stunden. Manchmal schneidet sie Grimassen, verzieht ihr Gesicht zu abstoßenden Fratzen, zu einer hässlichen Version ihrer selbst. Aus Schönheit wird Biest. Sie hört oft, dass sie schön ist. Luke sagt es ihr andauernd. Er bringt ihre Frisur in Ordnung, indem er ihr eine blonde Haarsträhne hinters Ohr streicht, und dann legt er ihr den Daumen auf die Lippen, um sie sanft zu schließen, und flüstert es ihr zu. Auch Charlie hat es ihr gesagt, hat es ihr ins Ohr gekeucht, während er sie von hinten nahm. Er hat sich anders ausgedrückt –schön gehörte nicht zu seinem aktiven Wortschatz, dennoch hatte es den Anschein, als sei es ehrlich gemeint, und es hat sie heiß gemacht. Manchmal rümpft sie die Nase, schielt, stülpt die Lippen nach außen, um zu testen, ob sie ihre Schönheit trotzdem noch sehen kann – die, die angeblich von innen kommt. Sie sieht nichts dergleichen. Sie murmelt ihren Namen, wie um sie auf diese Weise heraufzubeschwören.Vera,Vera,Vera. Sie kann nicht antworten. Noch einmal:Vera.
»Vera?«
Vera blinzelt. Sie fragt sich, wie lang sie wohl schon nach oben starrt auf den glänzenden Stoff des Heißluftballons. Sie schweben über einem Acker in Hertfordshire, nur ein paar Kilometer von dem Haus entfernt, in dem sie aufgewachsen ist. Luke kniet vor ihr, einen Ring in der Hand. »Ja«, sagt sie.
Dreihundertfünfundsechzig Tage sind vergangen seit ihrer ersten Begegnung auf einer Benefizveranstaltung, auf der sie alsPR-Beraterin zu tun hatte und er im Auftrag des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten und Commonwealth-Fragen eine Rede hielt. »PR-Leute sind schlimmer als Paparazzi«, scherzte er damals, »die sind noch nicht einmal auf der Jagd nach der Wahrheit, sondern produzieren bloß einseitige Propaganda.« Worauf sie konterte: »Wer für die Politik zu feige ist, wird Beamter, da hat er Macht, aber keine Verantwortung.«; »Vor Gott, dem Herrn müssen wir früher oder später alle Rechenschaft ablegen«, erwiderte er, und dank der Mischung aus Verschmitztheit und Ernst, mit der er sie dabei ansah, war sie binnen Sekunden verrückt nach ihm. Ihre neueste Droge. Innerhalb eines Jahres hat er alle anderen ersetzt.
Es ist sechshundertzwei Tage her, seit Vera das letzte Mal gekokst hat, und vierhundertdreiunddreißig Tage, seit sie etwas anderes als Camel Light geraucht hat – wobei Luke glaubt, dass sie auch die nicht mehr anrührt –, und genau dreihundertsechsundsechzig Tage, seit sie zuletzt Sex hatte. Charlie findet ihre wundersame Wandlung höchst amüsant und ist überzeugt, dass sie nicht von Dauer sein wird. Sie telefoniert noch gelegentlich mit ihm, was Luke nicht weiß. Er hat sie schon früh gebeten, Charlie nicht mehr zu kontaktieren. Sie hat damals eingewilligt, ohne darüber nachzudenken, aber es ist eine der wenigen Angewohnheiten, die sie nicht ablegen kann. Eine Art Selbstgeißelung.
Vera beugt sich nach vorn und küsst Luke zärtlich auf den Mund. Er riecht nach Kaffeebohnen. Nach denen von Abel und Cole, die er von Hand mahlt, mit seiner Kaffeemühle.
Er riecht nach Kaffeebohnen.
Wäre Veras Leben ein Film, dann einer mit zahlreichen Voiceover-Kommentaren.Er riecht nach Kaffeebohnen. Sie fragt sich manchmal, ob sie Dinge bemerkt, die andere Menschen nicht bemerken. Sie registriert alles, was ihr durch den Kopf geht.Sie glaubt, dass sie alles registriert. Findet das Gehirn aller Menschen die Zeit, jeden Satz fünf Mal umzustellen? Als hätte jemand auf die Pausetaste gedrückt. Stillstand. Pause und Schnellvorlauf zugleich. Sie sieht sich selbst von außen. Ihre Gedanken rasen. Verstreichen Minuten? Hat sie wieder die Nase gerümpft? Manchmal hat sie das Gefühl, noch immer high zu sein. Luke, der vor ihr kniet, betrachtet sie, als wäre sie ein glitzerndes Schmuckstück. Als wäre sie brandneu.Natürlich heirate ich dich.
»Natürlich heirate ich dich«, flüstert sie und fügt dann hinzu: »Aber bist du auch gan