: Hermann Hesse
: Volker Michels
: Kleine Freuden Verstreute und kurze Prosa aus dem Nachlaß
: Suhrkamp
: 9783518753040
: 1
: CHF 22.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 403
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Unt r dem Titel »Die Kunst des Müßiggangs« erschien 1973 eine erste Sammlung mit unbekannter Kurzprosa Hermann Hesses, die in den bisherigen Ausgaben seiner Gesammelten Schriften und somit auch in der Hesse-Werkausgabe von 1970 fehlt. Dieser Sammelband war rasch vergriffen und mußte seither jedes Jahr neu aufgelegt werden. Er hat ein überraschend nachhaltiges Interesse an Hesses darüber hinaus noch unveröffentlichter Kurzprosa ausgelöst und uns nahegelegt, nun, mit diesem zusätzlichen Band nahezu den gesamten »Feuilleton«-Nachlaß Hermann Hesses zu publizieren. Die Sammlung »Kleine Freuden« enthält die wichtigsten noch unbekannten autobiographischen Betrachtungen und Erinnerungen. Wie bereits »Die Kunst des Müßiggangs« wurde auch dieser Fortsetzungsband chronologisch angelegt. Von der 1899 entstandenen Titelbetrachtung bis zum Rückblick »Vierzig Jahre Montagnola« (1960) gibt es einen Querschnitt durch die Biographie Hermann Hesses. Er enthält mehr als 40, in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichte Stücke, die zuvor in Buchform noch nie zusammengefaßt worden sind, und mehr als 20 in thematischen Sammelbänden verstreute Arbeiten, die sämtlich noch nicht in die Hesse-Werkausgabe aufgenommen werden konnten. Die Sammelbände »Kunst des Müßiggangs« und »Kleine Freuden« ergänzen somit diese Ausgabe um über 150 bisher kaum bekannte Kurzprosastücke Hermann Hesses.



<p>Hermann Hesse, geboren am 2.7.1877 in Calw/Württemberg als Sohn eines baltendeutschen Missionars und der Tochter eines württembergischen Indologen, starb am 9.8.1962 in Montagnola bei Lugano.</p><p>Er wurde 1946 mit dem Nobelpreis für Literatur, 1955 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Nach einer Buchhändlerlehre war er seit 1904 freier Schriftsteller, zunächst in Gaienhofen am Bodensee, später im Tessin.</p><p>Er ist einer der bekanntesten deutschen Autoren des 20. Jahrhunderts.</p>

Venezianisches Notizbüchlein


17. April. - Seit einigen Wochen hatte das Heimweh nach Venedig mich geplagt. So oft ich an Venedig dachte, war es wie ein mildes, warmes Lied, wie die Verheißung einer Liebesnacht, wie ein tiefer Klang voll schwelgerischer Schönheit und leiser, zart genossener Melancholie. Ich schloß dann die Augen und sah schwebend wie helle Schatten die Fassaden des großen Kanals, die stillen, schlanken Frauen mit schwarzen Schultertüchern und schwarzen Haarknoten, die nächtlichen Plätze und Promenaden und die mondversilberte Giebelkette von San Giorgio und der Giudecca.

Durch mein schmales Fenster dringt der Duft des Wassers und feuchter Steine. Ich kann von hier aus von der Stadt nichts sehen als ein Stück Kanal, zwanzig Fuß lang und sieben Fuß breit, hohe Häusermauern mit toten, unregelmäßig verteilten Fenstern, darüber zwei Schornsteine und einen schmalen, süßen Streifen Himmelsbläue.

Ich liege im Fenster und atme voll und tief, höre das leise Gleiten einer unsichtbaren Frachtbarke und das leise Plaudern von zwei unsichtbaren Ruderern, und sehe den schmalen, lichten Himmel über den harten Umrissen der flachen Dächer glänzen. Auf diese Stunde habe ich wochenlang gewartet, auf diese Stille zwischen Stein und Wasser, auf diese milde, satte Luft, auf dieses milde, schüchterne Heimatgefühl der Weltferne und des Ausruhens. Das ist Venedig.

Der schmale Kanal und diese schweigenden Häuser sind mir wohlbekannt; nicht weit von hier war das letztemal meine Wohnung. Mit 30 Schritten erreiche ich Santa Maria Zobenigo, und von dort ist alles nahe, was die Piazza und der große Kanal Ehrwürdiges und Schönes hat. Täglich viele Male werde ich nun über die kleine, weiße Brücke und durch die enge, dämmernde Winkelgasse