: Walter Benjamin
: Johanna Sprondel
: Passagen, Durchgänge, Übergänge. Eine Auswahl [Was bedeutet das alles?] - Benjamin, Walter - Erläuterungen; Denkanstöße; Analyse
: Reclam Verlag
: 9783159617756
: Reclams Universal-Bibliothek
: 1
: CHF 6,10
:
: Philosophie: Antike bis Gegenwart
: German
: 120
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Der viel zu früh verstorbene Walter Benjamin (er nahm sich 1940 auf der Flucht vor den Nazis das Leben) war ein Flaneur der Geisteswissenschaften, ein genialer Aphoristiker, der »das Prinzip der Montage in die Geschichte« übernehmen wollte. Auch in seinem berühmten »Passagen-Werk« versuchte er, »in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken«. In einer Collage bietet dieser kommentierte Band die Essenz von Benjamins ästhetischen und geschichtsphilosophischen Schriften.

Walter Benjamin (15.7.1892 Berlin - 26. 9. 1940 Port Bou, Spanien) entstammte einer jüdisch-großbürgerlichen Familie und war ein deutscher Philosoph, Kulturkritiker und Übersetzer. Die Philosophie Walter Benjamins ist geprägt durch seine Beschäftigung mit der marxistischen Geschichtstheorie sowie durch den Kontakt zu Bertolt Brecht, Theodor W. Adorno oder Max Horkheimer. Ein Studium der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Freiburg, Berlin, München und Bern beendet Benjamin 1919 mit einer Promotion über den 'Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik'. Seine Habilitationsschrift wird zurückgewiesen, woraufhin er journalistisch für Zeitungen und Radioanstalten tätig wird. Mithilfe eines Stipendiums emigriert Benjamin 1933 nach Paris. 1940 geht er nach Marseille und versucht, vor dem Nationalsozialismus über die spanische Grenze zu flüchten, wo er zurückgewiesen wird. Benjamin nimmt sich daraufhin das Leben.Benjamin verknüpft in seinem im Pariser Exil entstandenen Aufsatz 'Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit' Marxismus und Kunsttheorie. In der Rolle als philosophisch-literarischer ?Flaneur? skizziert Benjamin in seinem Fragment gebliebenen und als 'Passagen-Werk' (eine Auswahl trägt den Namen 'Passagen, Durchgänge, Übergänge') bekannten Werk ein von Kapitalismus geprägtes Paris anhand einer Collage aus Notizen, Zitaten und Exzerpten. Ähnlich skizzenhaft und prosaisch ist die 1950 posthum von Adorno veröffentlichte Textsammlung 'Berliner Kindheit um neunzehnhundert', in der Benjamin im bruchstückhaften Nebeneinander der einzelnen Textabschnitte seine Kindheit in Westberlin Revue passieren lässt. Als gefragter Kulturkritiker veröffentlicht Benjamin etwa über Wolfgang Goethe, Franz Kafka, Marcel Proust, Charles-Pierre Baudelaire oder den Surrealismus. Weitere bekannte wissenschaftliche Abhandlungen sind 'Zur Kritik der Gewalt' und 'Über den Begriff der Geschichte'.Johanna Sprondel, geb. 1980, ist Professorin für Medien und Marketing in Stuttgart.

I. Fourier oder die Passagen


»De ces palais les colonnes magiques

A l’amateur montrent de toutes parts,

Dans les objets qu’étalent leurs portiques,

Que l’industrie est rivale des arts.«3

Nouveaux tableaux de Paris. Paris 1828. I, p. 27.

Die Mehrzahl der pariser Passagen entsteht in den anderthalb Jahrzehnten nach 1822. Die erste Bedingung ihres Aufkommens ist die Hochkonjunktur des Textilhandels. Die magasins de nouveautés4, die ersten Etablissements, die größere Warenlager im Hause unterhalten, beginnen sich zu zeigen. Sie sind die Vorläufer der Warenhäuser.

 

Wenn die Passage die klassische Form des Interieurs ist, als das die Straße sich dem Flaneur5 darstellt, so ist dessen Verfallsform das Warenhaus. Das Warenhaus ist der letzte Strich des Flaneurs. War ihm anfangs die Straße zum Interieur geworden, so wurde ihm dieses Interieur nun zur Straße, und er irrte durchs Labyrinth der Ware wie vordem durch das städtische.

 

Was in den Passagen verkauft wird, sind Andenken. Das »Andenken« ist die Form der Ware in den Passagen. Man kauft immer nur Andenken an die und die Passage. Entstehung der Andenkenindustrie.

 

Es war die Zeit, von der Balzac6 schrieb: »Le grand poème de l’étalage chante ses strophes de couleurs depuis la Madeleine jusqu’à la porte Saint-Denis7.« Die Passagen sind ein Zentrum des Handels in Luxuswaren. In ihrer Ausstattung tritt die Kunst in den Dienst des Kaufmanns. Die Zeitgenossen werden nicht müde, sie zu bewundern. Noch lange bleiben sie ein Anziehungspunkt für die Fremden. Ein »Illustrierter Pariser Führer« sagt: »Diese Passagen, eine neuere Erfindung des industriellen Luxus, sind glasgedeckte, marmorgetäfelte Gänge durch ganze Häusermassen, deren Besitzer sich zu solchen Spekulationen vereinigt haben. Zu beiden Seiten dieser Gänge, die ihr Licht von oben erhalten, laufen die elegantesten Warenläden hin, so daß eine solche Passage eine Stadt, ja eine Welt im kleinen ist.« Die Passagen sind der Schauplatz der ersten Gasbeleuchtung.

 

Das erhöhte die Sicherheit in der Stadt; es machte die Menge auf offener Straße auch des Nachts bei sich selber heimisch; es verdrängte den Sternenhimmel aus dem Bilde der großen Stadt zuverlässiger als das durch ihre hohen Häuser geschah. »Ich ziehe den Vorhang hinter der Sonne zu; nun ist sie zu Bett gebracht wie es sich gehört; ich sehe fortan kein anderes Licht als das der Gasflamme.« […] Mond und Sterne sind nicht mehr erwähnenswert.

 

Solange in ihr die Gas- ja die Öllampen gebrannt haben, waren sie Feenpaläste. Aber wenn wir auf dem Höhepunkt ihres Zaubers sie denken wollen, so stellen wir die Passage des Panoramas uns 1870 vor, als sie: auf der einen Seite hing das Gaslicht, auf der andern flackerten noch die Öllampen. Der Niedergang beginnt mit der elektrischen Beleuchtung. Aber ein Niedergang war es im Grunde nicht, sondern genau genommen ein Umschlag. Wie Meuterer nach tagelanger Verschwörung einen befestigten Platz sich zu eigen machen, so riß mit einem Handstreich die Ware die Herrschaft über die Passagen an sich. Nun erst kam die Epoche der Firmen und Ziffern. Der innere Glanz der Passagen erlosch mit dem Aufflammen der elektrischen Lichter und verzog sich in ihre Namen. Aber nun wurde ihr Name wie ein Filter, der nur das innerste, die bittere Essenz des Gewesnen hindurchließ.

 

Die zweite Bedingung des Entstehens der Passagen bilden die Anfänge des Eisenbaus. Das Empire sah in dieser Technik einen Beitrag zur Erneuerung der Baukunst im altgriechischen Sinne.

 

Es geht aber mit den Erfahrungen der Menschheit – und die Antike ist eine Menschheitserfahrung – nicht anders wie mit denen des einzelnen. Ihr Formgesetz ist ein Gesetz der Schrumpfung, ihr Lakonismus nicht der des Scharfsinns sondern der eingezogenen Trockenheit alter Früchte […].

 

Der Architekturtheoretiker Boetticher8 spricht die allgemeine Überzeugung aus, wenn er sagt, daß »hinsichtlich der Kunstformen des neuen Systemes das Formenprinzip der hellenischen Weise« in kraft treten müsse. Das Empire ist der Stil des revolutionären Terrorismus, dem der Staat Selbstzweck ist. So wenig Napoleon die funktionelle Natur des Staates als Herrschaftsinstrument der Bürgerklasse erkannte, so wenig erkannten die Baumeister seiner Zeit die funktionelle Natur d