: Theodor Storm
: Der Schimmelreiter. Novelle Reclam Taschenbuch
: Reclam Verlag
: 9783159618043
: Reclam Taschenbuch
: 1
: CHF 6.60
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 154
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein Reisender erblickt auf seinem nächtlichen Ritt entlang der stürmischen Küste Nordfrieslands einen gespenstischen Schatten, der sich mit seinem Pferd in die Fluten der Nordsee stürzt. Der Reisende kehrt in ein Wirtshaus ein - und erfährt die Geschichte jenes ruhelosen Reiters, des Schimmelreiters: Hauke Haien arbeitet sich vom einfachen Knecht zum einflussreichen Deichgrafen hoch. Mit dem Bau eines hochmodernen Deiches verfolgt er ein visionäres Ziel, das aber auf das Unverständnis der Dorfbewohner stößt und ein tragisches Ende unausweichlich werden lässt. Storms letzte vollendete Novelle erzählt vom Schicksal eines Außenseiters, von seinem Kampf gegen den Aberglauben, menschlichen Starrsinn und die unbändige Kraft des Meeres. - Mit einer kompakten Biographie des Autors.

Theodor Storm (14.9.1817 Husum - 4.7.1888 Hademarschen, Holstein) ist durch stimmungsstarke Lyrik und Novellen hervorgetreten. Sein Werk ist dem Realismus zuzuordnen, prägend sind Natur- und Gefühlsschilderungen, eine zunehmende Rolle spielen im Lauf des Schaffens gesellschaftliche und psychologische Konfliktsituationen, auch in historischen Zusammenhängen.

Was ich zu berichten beabsichtige, ist mir vor reichlich einem halben Jahrhundert im Hause meiner Urgroßmutter, der altenFrau Senator Feddersen, kundgeworden, während ich, an ihrem Lehnstuhl sitzend, mich mit dem Lesen eines in blaue Pappe eingebundenen Zeitschriftenheftes beschäftigte; ich vermag mich nicht mehr zu entsinnen, obvon den »Leipziger« oder von »Pappes Hamburger Lesefrüchten«. Noch fühl ich es gleich einem Schauer, wie dabei die linde Hand der über Achtzigjährigen mitunter liebkosend über das Haupthaar ihres Urenkels hinglitt. Sie selbst und jene Zeit sind längst begraben; vergebens auch habe ich seitdem jenen Blättern nachgeforscht, und ich kann daher umso weniger weder die Wahrheit der Tatsachen verbürgen, als, wenn jemand sie bestreiten wollte, dafür aufstehen; nur so viel kann ich versichern, dass ich sie seit jener Zeit, obgleich sie durch keinen äußeren Anlass in mir aufs Neue belebt wurden, niemals aus dem Gedächtnis verloren habe.

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Es war im dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts, an einem Oktobernachmittag – so begann der damalige Erzähler –, als ich bei starkem Unwetter auf einem nordfriesischenDeich entlangritt. Zur Linken hatte ich jetzt schon seit über einer Stunde die öde, bereits von allem Vieh geleerteMarsch, zur Rechten, und zwar in unbehaglichster Nähe, das Wattenmeer der Nordsee; zwar sollte man vom Deiche aus aufHalligen und Inseln sehen können; aber ich sah nichts als die gelbgrauen Wellen, die unaufhörlich wie mit Wutgebrüll an den Deich hinaufschlugen und mitunter mich und das Pferd mit schmutzigem Schaum bespritzten; dahinter wüste Dämmerung, die Himmel und Erde nicht unterscheiden ließ; denn auch der halbe Mond, der jetzt in der Höhe stand, war meist von treibendem Wolkendunkel überzogen. Es war eiskalt; meine verklommenen Hände konnten kaum den Zügel halten, und ich verdachte es nicht den Krähen und Möwen, die sich fortwährend krächzend und gackernd vom Sturm ins Land hineintreiben ließen. Die Nachtdämmerung hatte begonnen, und schon konnte ich nicht mehr mit Sicherheit die Hufen meines Pferdes erkennen; keine Menschenseele war mir begegnet, ich hörte nichts als das Geschrei der Vögel, wenn sie mich oder meine treue Stute fast mit den langen Flügeln streiften, und das Toben von Wind und Wasser. Ich leugne nicht, ich wünschte mich mitunter in sicheres Quartier.

Das Wetter dauerte jetzt in den dritten Tag, und ich hatte mich schon über Gebühr von einem mir besonders lieben Verwandten auf seinem Hofe halten lassen, den er in einer der nördlicherenHarden besaß. Heute aber ging es nicht länger; ich hatte Geschäfte in der Stadt, die auch jetzt wohl noch ein paar Stunden weit nach Süden vor mir lag, und trotz aller Überredungskünste des Vetters und seiner lieben Frau, trotz der schönen selbstgezogenen Perinette- und Grand-Richard-Äpfel, die noch zu probieren waren, am Nachmittag war ich davongeritten. »Wart nur, bis du ans Meer kommst«, hatte er noch aus seiner Haustür mir nachgerufen; »du kehrst noch wieder um; dein Zimmer wird dir vorbehalten!«

Und wirklich, einen Augenblick, als eine schwarze Wolkenschicht es pechfinster um mich machte, und gleichzeitig die heulenden Böen mich sa