8
Prof. Dr. Winfried Berthold hat sie alle nach dem Frühstück im Speisesaal antreten lassen, hinter sich das gesamte Personal, vor sich die Kurgäste. Streng erhebt er, natürlich nach mehrmaligem Räuspern, seine Stimme: „Meine Damen und Herren –mhhhmh –, ich weiß, dass hier viele von Ihnen glauben, Sie seien zum Vergnügen in dieser Kuranstalt –mhhhmh. Und vergnügen sollen Sie sich ja auch!“ Einer kurzen Gedankenpause folgt die deutlich lautere Fortsetzung der Ansprache: „Aber Grundlage dieses Vergnügens ist immer noch die Einhaltung der vorgeschriebenen Therapie, der festgelegten Termine und vor allem der Hausordnung!“
Stumm werden erstaunte Blicke der Sorte „Ich doch nicht!“ im Saal ausgetauscht, während der medizinische Leiter des Hauses energisch fortsetzt: „Und glauben Sie mir, wir haben uns bei alldem etwas gedacht –mhhhmh. Unser Ziel ist es, dass Sie gesünder und erholter nach Hause kommen –“
Es folgen eine weitere Unterbrechung, ein tiefes Luftholen mit anschließender Atempause und das Heraustreten der Adern auf seiner Stirn.
Dann brüllt er: „– und nicht tot!“
Ein Raunen geht durch den Saal.
„Noch nie ist in meinem Haus jemand umgekommen, und noch nie habe ich ein derart undiszipliniertes Publikum gehabt wie zurzeit, mit den daraus resultierenden Beschwerden der Ärzte und Therapeuten. Gestern Nacht wurde Herr August-David Friedmann nackt im Schwimmbecken aufgefunden. Ertrunken!“
Abermals erheben sich gedämpft die Stimmen.
„Ich weiß nicht, was manche hier treiben, aber ab jetzt, meine Herrschaften, werde ich über jeden, der hier vom Kurs abweicht, eine Beschwerde genau an die Stellen schicken, die Ihnen Ihren noblen Kuraufenthalt hier finanzieren. Das Schwimmbad ist bis auf Widerruf geschlossen!“
Mit diesem Satz knallt er hinter sich die Tür zu.
Das war wohl längste störungsfreie Berthold-Sprachbeitrag überhaupt, denkt sich die Djurkovic und bemerkt abermals, wie schon während ihrer Gespräche mit dem Professor, dieses seltsame Kratzen im Hals.
Noch bevor aus dem betretenen Schweigen ein Stimmengewirr wird, sind die Djurkovic und die Burgstaller aus dem Speisesaal hinaus.
„Recht so, dass denen jetzt mal ordentlich der Kopf gewaschen wurde!“, meint Helene Burgstaller.
„Stimmt schon, nur glaub ich, ist auch aus mit unsere Extrawürste! Müssma gehen wahrscheinlich in Gruppentherapie. Glück ist nur, dass Schwimmbad gesperrt!“
„Na, Weiberheld war der ja keiner, der Friedmann“, beginnt die Burgstaller nun das eigentliche Thema in Angriff zu nehmen, „kann ich mir nicht vorstellen, dass bei dem auch nur eine der brünstigen Damen zu einer Notlandung angesetzt hätte. Das war doch der Glatzerte, der im Speisesaal immer allein und stocksteif beim Tisch neben dem Ficus gesessen ist und jeden Tag im See schwimmen war, bei jeder Temperatur, oder? Können Sie sich den auf einem nächtlichen Ausflug im Schwimmbad vorstellen? Nackt?“
Vorstellen hätte sich das die Djurkovic garantiert nicht können. Nur von „vorstellen“ kann ja bei ihr nicht die Rede sein.
„Hören Sie auf, will ich nicht denken an so was. Pfui! Aber haben Sie recht, Friedmann hat gefunden Schwimmbad genauso grauslich wie wir, außerdem Friedmann und Weiberheld passt zusammen wie ausgezogene Apfelstrudel und Essiggurkerl.“
Die Burgstaller muss hellauf lachen, was die aus dem Speisesaal herausströmenden Patienten natürlich entsprechend honorieren: „Pietätlos!“, „Unmöglich!“, „Primitiv!“, „Typisch!“, „Menschen gibt es!“ sind nur Auszüge der Kommentare. Auszüge, weil, wenn einer wo seinen Senf dazugibt, auch gleich alle anderen auf die Tube drücken: Es kann eben nicht scharf genug sein.
Scharf genug können sich die Anschluss suchenden Damen dieser Anstalt gar nicht mehr herrichten, weil sich so ein Todesfall nämlich ganz schlecht auf die Potenz der noch lebenden Männchen auswirkt. Richtig erschüttert hat es die Herren, dieses endgültige Untertauchen des August-David Friedmann. Die Djurkovic versteht ja überhaupt nicht, was die Damen hier an den Männern so anziehend oder ausziehend finden. Nicht im Traum käme ihr da auch nur ein Einziger in den sündigen Sinn. Natürlich ausgenommen ihr wunderbarer Physiotherapeut Jakob Förster, der einzige männliche Lichtblick an diesem Ort der Verdammnis, mit seinen tiefgründigen dunklen Augen und seinen begnadeten Händen. Nur zählt Jakob Förster nicht, denn von Unerreichbarem lässt es sich leicht und vor allem guten Gewissens sündig träumen.
Nachdem endlich wieder Ruhe eingekehrt ist und in den Zimmern die Fernseher laufen, laufen die Djurkovic und die Burgstaller in die Arme von Prof. Dr. Winfried Berthold.
„Mhhhmh – das trifft sich gut, meine Damen, kommen Sie doch gleich einmal mit –mhhhmh –mhhhmh!“
Ein Büro erzählt viel über seinen Besetzer. Mahagoniholz, wohin man sieht, die Bücherregale, der Schreibtisch, die zwei davorstehenden Besucherstühle, auch der wuchtige Schreibtischsessel. Und der Glaskasten. In dem stehen keine Trophäen, Pres