Nur bei 30 Prozent der deutschen Manager, die Verhandlungen führen, war Verhandeln Teil der Ausbildung. Gerade einmal 38 Prozent der deutschen Unternehmen geben ihren Verhandlungsführern überhaupt irgendeine Hilfestellung bei der Übernahme von Verhandlungsaufgaben.1 Dennoch erkenne ich bei vielen Verhandlungsteams mittlerweile ein gewisses Verhandlungs-Grundwissen. Jeder, der anspruchsvoll verhandelt, sollte über gefestigte und zuverlässige Grundlagen moderner Verhandlungsführung verfügen. Allein schon, um auf Augenhöhe mit seinen Vorgesetzten, Partnern und Teams zu sein und eine gemeinsame »Verhandlungssprache« zu sprechen. Ich ziehe diese Grundlagen bewusst vor die Klammer, damit wir in den folgenden Kapiteln auf einer gemeinsamen Basis aufsetzen. Sofern eine Vertiefung einzelner Aspekte für den praktischen Verhandlungserfolg relevant ist, werde ich die Konzepte in Teil 2 und 3 praxisnah aufgreifen. Sollten Sie bereits Vorkenntnisse haben, können Sie die folgenden zwölf Basics getrost überfliegen.
In der Praxis stelle ich fest, dass nur die Schlagworte der Verhandlungssprache hängen geblieben sind, echtes Verständnis der Konzepte oder gar die Einordnung in einen strategischen Gesamtkontext erlebe ich selten. Deshalb gebe ich zusätzlich Hinweise zu üblichen Fehlern und der strategischen Bedeutung im gesamten Verhandlungskontext.
1. Schätzen Sie die Verhandlungssituation anhand von BATNA, Rückzugspunkt und ZOPA ein
Die folgenden drei Begriffe der Verhandlungsanalyse benötigen Sie in jeder Verhandlung. Sie wurden anhand von Preisverhandlungen entwickelt. Die Konzepte sind aber auf jede Verhandlung übertragbar.
Arbeiten Sie an der besten Alternative zur Ihrer Verhandlungslösung (»BATNA«). Die Abkürzung BATNA steht für »Best Alternative to Negotiated Agreement«. Gemeint ist damit die beste Alternativoption, die zur Verfügung steht, falls sich die Partner nicht einigen können. Wenn ein Kandidat für eine ausgeschriebene Stelle von Ihnen 100 000 Euro Jahresgehalt fordert, Sie aber bereits zuvor 90 000 Euro mit einem gleichwertigen Kandidaten verhandelt haben, dann haben Sie eine starke Verhandlungsposition, da Ihre BATNA besser ist. Die BATNA ist gut für Ihre Klarheit im Denken. Bei Verhandlungen sind Sie sind umso mächtiger, je besser Ihre Alternativen sind. Ihrem Verhandlungspartner geht es genauso. Deshalb lautet die Maxime: Verbessern Sie Ihre eigenen Alternativen und beeinflussen Sie die Alternativen Ihres Partners, sofern möglich.
In der Praxis ist häufig das Problem, das die BATNA beider Seiten nicht klar ist. Entweder weil die Bestimmung anspruchsvoll ist oder weil die entsprechenden Informationen zur Bestimmung nicht vorliegen. Wann hatten Sie bei einer Stellenbesetzung wirklich zwei gleichwertige Kandidaten, die direkt miteinander vergleichbar sind? Wie gehen Sie damit um, wenn Ihr Bewerber behauptet, er habe ein besseres Angebot eines anderen Unternehmens? Wobei Sie sich nicht sicher sind, ob das wirklich stimmt. Nicht immer ist die Suche nach Alternativen einfach. Denken Sie an Verhandlungen mit einem Monopolisten. Wenn sie als Airline an Ihr Drehkreuz gebunden und mit den Flughafengebühren nicht einverstanden sind, können Sie Ihre Flugzeuge und Mitarbeiter nicht ohne Weiteres an einen anderen Flughafen verschieben, mit dem Sie einen besseren alternativen Deal abgeschlossen haben. Die vorliegenden Alternativen sind häufig nicht wirklich gleichwertig. Dann müssen Sie abwägen. Wichtig ist an dieser Stelle, dass die BATNA zwar eine wichtige Quelle von Verhandlungsmacht ist, allerdings nicht die einzige. Wir werden das Thema im Kapitel 2.3 unter »Stärken Sie Ihre Verhandlungsmacht« vertiefen.
Ein wichtiger Hinweis zur BATNA: Bei der BATNA geht es nicht um Wunschdenken, sondern um eine realistische, faktenbasierte Einschätzung, was Sie tun können, wenn Sie sich nicht am Verhandlungstisch einigen. Dies wird von vielen Verhandlungsführern nicht so gehandhabt. Dann wähnen sie sich in zu großer Sicherheit und versuchen, zu hohe Forderungen am Verhandlungstisch durchzusetzen. Falls die Verhandlungen scheitern, wird die BATNA den überoptimistischen Erwartungen in aller Regel nicht gerecht.
Bestimmen Sie Ihren Rückzugspunkt. Eng verwandt mit der BATNA ist der Rückzugspunkt. Er wird auch »walk-away«, »bottom-line« oder Reservationspunkt genannt. Unterschreitet oder überschreitet ein Lösungsvorschlag diesen gesetzten Wert, dann ist der Verhandlungsführer nicht bereit, sich zu einigen. Wenn Sie ein besseres Angebot für eine vergleichbare Alternative haben, dann bestimmt dieses Angebot Ihren Rückzugspunkt. Bietet Ihnen zum Beispiel ein Headhunter einen Job an, der mit Ihrer aktuellen Stelle vergleichbar ist, dann ist ihr Rückzugspunkt ihr aktuelles Gehalt, darunter wechseln Sie nicht. Allerdings: Die Realität ist komplizierter. Sie werden sich bei einem Jobangebot wahrscheinlich nicht nur auf das Grundgehalt fixieren, sondern zusätzlich andere Themen wie Bonus, Altersversorgung, Dienstwagen, Verantwortung, Chef, Risiko, Titel oder Unternehmenskultur einpreisen. Dann benötigen Sie ein Scoring-System2, um den Rückzugspunkt präzise zu bestimmen. Jedem Thema und jeder Lösungsoption innerhalb eines Themas wird ein Punktwert zugeordnet, um verschiedene Themen miteinander vergleichbar zu machen. Selbst wenn es keine oder unklare Alternativen gibt, ist es sinnvoll, einen Rückzugspunkt zu setzen. Wenn Sie im Auftrag handeln, dann macht Ihnen Ihr Auftraggeber eine Vorgabe zum Rückzugspunkt. Oder Sie möchten sich ein Limit setzen, bei dem Sie die Verhandlungen unterbrechen und nochmals allein, mit Ihrem Team oder Ihrem Auftraggeber über die weitere Strategie nachdenken.
Zu nichts wird in Verhandlungen mehr gelogen als zum eigenen Rückzugspunkt. Konventionelle Verhandlungsführer verwenden sehr viel Energie darauf, die Vorstellung ihrer Verhandlungspartner zum eigenen Rückzugspunkt zu manipulieren. Seien Sie deshalb vorsichtig mit diesen Informationen und überprüfen Sie sie. Ob Sie sich selbst an diesen Manipulationen beteiligen sollten, erörtern wir später. So viel vorab: Ich rate davon ab.
Analysieren Sie, ob es für Ihre Verhandlung einen Lösungsraum gibt (»ZOPA«). Aus den Rückzugspunkten der beiden Verhandlungsführer entsteht die sogenannte ZOPA, die »Zone of Possible Agreement.« Andere Namen hierfür sind der Lösungsraum oder die Verhandlungszone. Im Lösungsraum befinden sich alle Verhandlungsergebnisse, die für beide Seiten...