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Im Grunde war es nicht erforderlich, dass Uwe die knapp sechs Kilometer bis zum Weißen Hirsch auf seinem Fahrrad zurücklegte. Ohne Probleme hätte er seinen Drahtesel den Kriminaltechnikern anvertrauen und sich von einer Funkstreife zu Rosts Wohnung chauffieren lassen können. Eine mahnende Stimme tief in seinem Inneren hatte ihm davon abgeraten. Es war sehr wahrscheinlich, dass der Mordfall seine komplette Aufmerksamkeit beanspruchen würde und er deswegen sein Handballtraining in der näheren Zukunft vergessen könnte. Also musste er jede Gelegenheit nutzen, um etwas für seine Kondition zu tun. Aus diesem Grund biss Uwe die Zähne zusammen, radelte die gemütliche Strecke bis zur Mordgrundbrücke und quälte sich anschließend den stetigen Anstieg bis zum Weißen Hirsch hoch.
Am Ziel angekommen, zog er den Stadtplan aus seiner Umhängetasche und orientierte sich. In diesem Stadtteil kannte er nur das Kino Parklichtspiele und das Parkhotel. Uwe überlegte kurz, es musste schon ein Jahr her sein, dass er in Letzterem die Disco besucht hatte. Damals war er noch mit Petra zusammen gewesen. Aber das war Vergangenheit und der sollte man nicht nachhängen.
Er fand die betreffende Adresse schnell und stand fünf Minuten später vor einer Villa, an der der Zahn der Zeit noch nicht allzu sehr genagt hatte. Die Haustür war nicht verschlossen, und Uwe stieg in die erste Etage hoch. Auf sein Klingeln öffnete eine vollschlanke, sehr attraktive Frau. Uwe fand sie hübsch; seiner Meinung nach mussten Frauen nicht wie Säulenheilige aussehen, die wochenlang ohne Nahrungsaufnahme auf einem Pfahl gehockt hatten.
Zwei große runde Augen schauten ihn fragend an. »Ja, bitte?«
»Frau Rost? Ich bin Leutnant Friedrich, Kripo Dresden. Entschuldigen Sie bitte die Störung, ich müsste mich mit Ihnen unterhalten.« Da sie ihn weiterhin stumm musterte und standhaft die Tür versperrte, setzte er hinzu: »Es wäre gut, wenn Sie mich in Ihre Wohnung bitten würden.«
»Ist Siegfried etwas zugestoßen?«
Uwe räusperte sich und blickte sie nachdrücklich an.
»Ach so, ja. Bitte treten Sie ein.«
Gleich nachdem der junge Polizist die Wohnung betreten hatte, klappte ihm fast der Unterkiefer nach unten. Er glaubte sich in eine Märchenwelt versetzt. Im Flur und dem Wohnzimmer lagen wunderschöne Teppiche, die Wände schmückten Gemälde, und in kostbar aussehenden Vitrinen standen Kelche, Vasen und Porzellanfiguren.
Frau Rost deutete auf einen Sessel, der aussah, als wäre er direkt aus einem barocken Jagdschloss hierhergebracht worden.
Vorsichtig ließ Uwe sich in das rote Polster sinken. Rost hat in einem Museum gewohnt, fuhr es ihm durch den Kopf.
Ein verhaltenes Hüsteln holte ihn in die Realität zurück. »Darf ich Ihnen etwas anbieten, junger Mann? Einen Kaffee vielleicht?«
Uwe nickte, immer noch völlig perplex. In der kurzen Zeitspanne, die Frau Rost in der Küche verbrachte, irrten seine Blicke von einem Kunstwerk zum anderen. Er stellte für sich fest, dass ein Antiquitätenhändler in dieser Wohnung mit Sicherheit vor Gier einen staubtrockenen Mund bekommen würde.
»Also, was führt Sie zu mir?« Frau Rost hatte sich von ihrem anfänglichen Schrecken erholt, schenkte ihm ein Lächeln und stellte zwei Tassen auf dem mit Intarsien verzierten Tisch ab.
»Ich muss Ihnen eine traurige Nachricht überbringen. Ihr Mann ...«
Die Frau schnellte aus dem Sessel. »Siegfried hatte einen Unfall? Ich muss zu ihm! Sagen Sie schnell, in welchem Krankenhaus er liegt!«
Uwe erhob sich ebenfalls und drückte die Frau sanft in die Polster zurück. »Wen soll ich anrufen, damit er sich um sie kümmert? Ihren Arzt oder li