: Jan Konst
: Der Wintergarten Eine deutsche Familie im langen 20. Jahrhundert
: Europa Verlag GmbH& Co. KG
: 9783958902701
: 1
: CHF 10.80
:
: Zeitgeschichte (1945 bis 1989)
: German
: 380
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Fast hundert Jahre alt wird Hilde Grunewald. 1902 im sächsischen Meißen geboren, wächst sie unter Kaiser Wilhelm II. auf. Sie heiratet in der Weimarer Republik, ihre Kinder kommen in der Zeit des Nationalsozialismus zur Welt. Hilde erlebt den Aufstieg, aber auch den Zusammenbruch der DDR - und schließlich die friedliche Revolution von 1989, durch die sie Bürgerin der Bundesrepublik wird. Ihr Leben ist von Umbrüchen gezeichnet. Sie überlebt zwei Weltkriege und hat mit den Folgen wirtschaftlicher Krisen zu kämpfen. Aus eigener Erfahrung weiß sie, wie es in höheren Kreisen zugeht - aber auch, was es bedeutet, auf finanzielle Unterstützung angewiesen zu sein. Die russische Besatzung prägt ihr Leben ebenso wie der Kalte Krieg, der Bau der Berliner Mauer und die Wende. Mit historischer Präzision und erzählerischem Geschick blickt Literaturwissenschaftler Jan Konst in 'Der Wintergarten' auf das bewegte Leben seiner Schwiegerfamilie. Hildes Geschichte, aber auch die ihrer Eltern, Kinder und Enkel gerät dabei für den Leser zu einer faszinierenden Zeitreise durch das lange 20. Jahrhundert vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung. Eine einzigartige Familienchronik über vier Generationen und hundertfünfzig Jahre deutscher Geschichte.

Jan Konst ist Literaturwissenschaftler und Niederlandist. Seit 2000 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Niederländische Philologie (Literaturwissenschaft) an der Freien Universität Berlin. Seine Publikationen widmen sich der frühmodernen Literatur, den niederländisch-deutschen Literaturbeziehungen und der Gegenwartsliteratur in den Niederlanden und in Flandern. In seinem gefeierten Buch 'Der Wintergarten' beleuchtet Jan Konst die Geschichte seiner Schwiegerfamilie aus einer reflektierenden und zugleich von Empathie geprägten Position.

KAPITEL 2


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17. Januar 1903 – In Peking wird ein Denkmal für den ermordeten Diplomaten Clemens von Ketteler eingeweiht.

27. März 1907 – In Berlin öffnet das riesige KaDeWe, das Kaufhaus des Westens, seine Pforten.

12. Januar 1912 – Die SPD wird mit 35 Prozent bei den Reichstagswahlen stärkste Fraktion.

28. Juni 1914 – Franz Ferdinand von Österreich wird in Sarajevo von Gavrilo Princip ermordet.

27. September 1917 – Der Unternehmer Alwin Bauer erwirbt für 1,9 Millionen Mark Schloss Weesenstein.

Am 5. Mai des Jahres 1900 ist es so weit: Emil Grunewald heiratet Hedwig Paul. Sie wird 1872 als Tochter des Fabrikantenehepaars Ernst und Johanna Paul geboren (Abb. 3). Emil kennt das Mädchen schon seit der Grundschule, aber er scheut sich lange, ihr seine Liebe zu gestehen. Das liegt sicher auch am Standesunterschied. Emils Vater, der kleine Gemüsegärtner, steht für den Bauernstand. Als Besitzer einer Firma, die sich auf die Fabrikation von Stoffen verlegt hat, ist Hedwigs Vater jedoch ein Angehöriger des Bürgertums.

Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erkennt auch Familie Paul die Möglichkeiten, die ihr die industrielle Revolution bietet. Hedwigs Großvater investiert in moderne Webstühle und kauft eine Dampfmaschine. Es entsteht eine kleine Fabrik, in der fünfzehn Menschen Arbeit finden. Die Familie kann sich einen gewissen Wohlstand erlauben und bewohnt ein Haus an einem ruhigen Plätzchen am Ortsrand von Seifhennersdorf. Emil weiß nicht, ob er Hedwig denselben Lebensstandard wird bieten können. Doch nachdem er sein Abschlusszeugnis vom Lehrerseminar Löbau schon einige Zeit in der Tasche hat, fasst er sich ein Herz. Er ist überrascht, dass Hedwig seine Zuneigung gleich erwidert. Sie werden ein Paar und beginnen Pläne für eine gemeinsame Zukunft zu schmieden.

Bevor diese Zukunft aber mit einer Hochzeit besiegelt wird, vergehen noch gut acht Jahre. Für ein Leben als Familienvater muss Emil auf eigenen Beinen stehen. Deshalb ist es kein Zufall, dass er gleich nach dem Ende seines ersten Schuljahrs in Meißen heiratet. Die feste Stelle am Franziskaneum sichert ihm nicht nur beruflichen Erfolg und Sozialprestige, sondern legt auch die materielle Basis für eine eigene Familie. Emil feiert Hochzeit, als er schon fast dreißig ist. Das mag spät erscheinen, war allerdings in dieser Zeit nicht ungewöhnlich. Weil Männe