MIA
Jetzt
»Muffelnde Muttergottes.« Meine beste Freundin Abby hält ein schimmeliges Stück Stoff zwischen zwei weiß behandschuhten Fingern hoch. »Wasist das?«
Was immer es früher mal gewesen ist – eine Jacke? Eine Decke? Ein Läufer? –, jetzt ist es schwarz, steif von über die Jahre angesammelten und eingetrockneten Flecken, dazu voller Löcher, wo es von einer ganzen Prozession Insekten angeknabbert wurde. Und es stinkt. Obwohl ich ein Stück weg stehe und mich riesige Berge aus Büchern und Zeitungen, Lampen und alten Klimaanlagen sowie Kartons mit Hunderten verschiedener, nie genutzter, nie ausgepackter Waren der Art, die man um Mitternacht per Teleshopping kauft – Mixer, Allzweckmesser, Kuscheldecken mit Ärmeln und sogar ein Bistro-Ofen mit Drehspieß –, von Abby trennen, treten mir von dem Gestank Tränen in die Augen.
»Frag nicht«, sage ich. »Schmeiß es einfach weg.«
Sie schüttelt den Kopf. »Hat deine Mutter hier drin eine Leiche versteckt oder so?« Als ihr bewusst wird, was sie gesagt hat, stopft sie das Teil schnell in einen Müllsack. »Tut mir leid.«
»Schon okay.« Das ist eins der Dinge, die ich an Abby mag: Sie vergisst. Sie hat nicht dauernd im Kopf, dass ich mit zwölf beschuldigt wurde, meine beste Freundin ermordet zu haben. Dass, wenn man bei GoogleMia Ferguson eingibt, als erstes Suchergebnis ein beliebter Erziehungsblog mit einem Artikel unter der Überschrift »Wie aus Kindern Monster werden – wer ist schuld daran?« auftaucht.
Das liegt zum Teil daran, dass Abby erst vor zwei Jahren hergezogen ist. Sie hatte natürlich von dem Mord gehört –alle haben davon gehört –, aber aus zweiter Hand ist das etwas anderes. Für Leute außerhalb unserer Stadt war Summers Tod eine Tragödie und die Tatsache, dass drei Jugendliche die Hauptverdächtigen waren (okay, dieeinzigen Verdächtigen), ein unvorstellbares Grauen.
Aber in Twin Lakes war es etwas Persönliches. Selbst
fünf Jahre später kann ich nicht durch die Stadt gehen, ohne dass mich alle anstarren oder furchtbare Dinge flüstern. Vor ein paar Jahren kam mal vor demKnit Kit eine Frau auf mich zu. Ich sah mir gerade die Körbe voller flauschig bunter Wolle an und das Schild mit der AufschriftMake Socks, Not War im Schaufenster. Sie hatte die Lippen geschürzt, als wollte sie mich küssen – und spuckte mir ins Gesicht.
Selbst meine Mutter wird beschimpft, wenn sie einkaufen geht oder Wäsche wegbringt oder zur Post muss. Vermutlich werfen ihr alle vor, ein Monster großgezogen zu haben. Irgendwann wurde es einfach leichter, zu Hause zu bleiben. Glücklicherweise – oder vielleicht auch unglücklicherweise – hat sie ihre eigene Onlinemarketingfirma. Da sie alles von Klopapier über Socken bis hin zu Milch im Internet bestellen kann, geht sie manchmal ein halbes Jahr nicht vor die Tür. Als sie vor ein paar Tagen verkündete, sie würde ihre Schwester besuchen, bekam ich beinahe einen Herzinfarkt. Es is