: Siba Shakib
: Der Kirschbaum, den sie ihrer Mutter nie schenkte Roman
: C.Bertelsmann Verlag
: 9783641271152
: 1
: CHF 9.90
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: Erzählende Literatur
: German
: 368
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein eindringlicher Roman über die heilende Kraft des Geschichtenerzählens

Anoush steht in der Lebensmitte an einem Wendepunkt: Ihre Freundin Anouk, wie sie selbst Tochter eines Iraners und einer Deutschen, mit der sie in Teheran aufwuchs wie mit einer Schwester, hat sich das Leben genommen. Für Anoush bleibt die Zeit stehen. Es ist nicht das erste Mal, dass sie Anouk verliert, doch diesmal ist der Verlust endgültig. Anoush, die viele Jahre zuvor jede Verbindung zu ihren Eltern im Iran gekappt hat, zieht sich in ihr kleines Haus in den italienischen Marken zurück, um all die traumatischen Erinnungen zu verarbeiten und einen vor Langem begonnenen Roman fertigzuschreiben. Die Natur um sie herum tut ihr gut, aber es fällt ihr schwer, sich zu sammeln. Da taucht plötzlich eine geheimnisvolle Frau bei ihr auf, die sagt, sie habe ihr Gedächtnis verloren. Auf Anoush macht sie einen unerklärlich vertrauten Eindruck, weshalb sie sie fortan Anouk nennt. Während die neue Anouk Anoush in ihre Geschichte führt, hilft der entstehende Roman beiden, wieder zu sich selbst zu finden. Und schließlich gelingt es Anoush sich mit ihrer Mutter und der Vergangenheit zu versöhnen.

Siba Shakib wurde im Iran geboren, wuchs in Teheran auf und besuchte dort die deutsche Schule. Seit vielen Jahren arbeitet sie als Autorin und Filmemacherin. Ihr erstes Buch »Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen« war Nummer 1 der Spiegel-Bestsellerliste und wurde in 16 Länder verkauft. Sie lebt abwechselnd in Deutschland, New York und Italien.

New York City, 2021. Alles wird anders

Als habe ihr Körper Wurzeln geschlagen, die sich in den Beton des kalten Leichenschauhauses in Downtown Manhattan fressen, steht Anoush da und starrt in das leblose Gesicht ihrer Freundin Anouk, das aussieht, als sei es aus Wachs.

Anoush und Anouk kommen mit wenigen Minuten Abstand im damals einzigen Krankenhaus des Iran auf die Welt und sehen sich so ähnlich, dass Krankenschwestern und Hebamme fürchten, sie miteinander vertauscht zu haben. Ihre Mütter finden es lustig, und mit ihren Babys an der Brust geben sie ihnen zum Verwechseln ähnliche Namen.

Die blutjungen Mütter, eine aus Berlin, die andere aus München, fühlen sich fremd im exotischen Iran, sprechen die Sprache der neuen Heimat nicht, kennen außer der Familie ihrer Ehemänner niemanden und werden Freundinnen. Sie gehören zu jenen Frauen, die aus dem tristen Nachkriegsdeutschland geflohen und iranischen Studenten nach Teheran gefolgt sind, geheiratet und die iranische Staatsbürgerschaft angenommen haben. Ihre Töchter spielen miteinander, tragen die gleichen Kleider, haben beide langes, dunkles Haar mit Mittelscheitel, die gleiche Art zu gehen und zu sprechen, und es kommt vor, dass sogar ihre Eltern sie miteinander verwechseln.

Allerdings unterscheiden sich die Mädchen vom Wesen her. Anoush überfordert sich und ihre Umgebung bereits als kleines Kind, ist nie zufrieden mit sich und ihrem Können, ist sprunghaft, scheut keine Gefahr. Sie schlüpft von einer Rolle in die andere, später wechselt sie von einem Beruf in den anderen. »Sie ist wie ein Baum, der seine Wurzeln überallhin ausbreitet, seine Äste in den Himmel und in alle Richtungen streckt, und Wind und Wetter trotzt. Und mit ihrem Dickschädel geht sie durch noch so dicke Wände«, sagt Anoushs Mutter und bringt alle zum Lachen. Dass ihre Tochter auch eine weiche und zerbrechliche Seite hat, die sie hinter verletzender Härte verbirgt, will die Mutter nicht sehen.

Das Kind glaubt ihr, denkt, es genüge nicht, und wird noch trotziger. Die Kleine hat den Anspruch, alles richtig zu machen, überfordert sich, ist rechthaberisch und eckt noch mehr an. Mutter wird immer hilfloser, und manchmal ist sie sogar angewidert von ihrem Kind.

»Kein Wunder, dass niemand mit dir auskommt. Deine Stacheln bohren sich in die Haut und bleiben im Fleisch der Menschen stecken. Nimm dir ein Beispiel an Anouk«, sagt Mutter, sieht ihre Tochter mit Tränen in den Augen an. »Ich komme nicht an dich heran, du bist wie ein Fels mit scharfen Kanten, die mich verletzen. Krieg und Hunger habe ich überlebt. Gegen dich aber komme ich nicht an. Du brauchst mich nicht. Du bist stark, kannst dich durchsetzen.«

»Ich komme allein zurecht«, übernimmt Anoush die Worte der Mutter und träumt davon, wie Anouk zu sein. Liebenswürdig und sanft. Anouk muss nicht kämpfen, erobert mit Leichtigkeit die Herzen der Menschen, die es glücklich macht, ihr Zuneigung schenken zu dürfen.

Doch nun ist alles vorbei!

Vor vier Tagen und vier Stunden hat Anouk eine Mischung aus Reinigungsmitteln und Rattengift getrunken und sich das Leben genommen.

»Unsere Freundschaft wird niemals vorbei sein«, hört Anoush im Geiste Anouks Stimme. »Du und ich sind eins. Ich bin gestorben, damit du dein Leben findest!«

Anoush schließt die Augen. Ihre Kehle und der Magen brennen, ihre Zunge ist pelzig vom Rotwein, von dem sie am Abend zuvor zu viel getrunken hat. Als habe sie geahnt, dass ein Unheil auf sie zukäme, war sie seit Tagen unruhig und hatte das Bedürfnis, ihre Sinne zu betäuben. Jetzt versteht sie, warum sie nicht aufhören konnte an Anouk zu denken. An sie und Jacob, ihren Ex-Mann, der sie mit i