: Joshua Sobol
: Der große Wind der Zeit Roman
: Luchterhand Literaturverlag
: 9783641221577
: 1
: CHF 16.90
:
: Erzählende Literatur
: German
: 528
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein humanistisches Meisterwerk, ein großer Roman über vier Generationen der Familie Ben-Chaim, eine umfassende Geschichte Israels: Libby, Offizierin der israelischen Armee und Verhörspezialistin, nimmt sich nach einer beunruhigenden Begegnung mit einem mutmaßlichen Terroristen Urlaub von der Armee und fährt zu ihrem Großvater Dave in den Kibbuz. Dort stößt sie auf das Tagebuch ihrer Urgroßmutter Eva und taucht fasziniert in ihre Welt ein. Eva war eine starke, lebenslustige Frau, die in den frühen dreißiger Jahren Kibbuz, Mann und Kind verließ und in Berlin als Tänzerin auftrat, bevor sie floh.

Joshua Sobol, 1939 in Tel Mond geboren, lebte in einem Kibbuz und studierte u.a. in Paris Philosophie. Als einer der führenden israelischen Dramatiker lehrte er u. a. an der Universität in Tel Aviv. Weltweit bekannt wurde er mit den Theaterstücken »Weiningers Nacht« (1982) und »Ghetto« (1984), inzwischen hat er über 50 Stücke geschrieben und ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Bei Luchterhand erschienen die Romane »Schweigen« (2001) und »Whisky ist auch in Ordnung« (2005).

1. ENTLASSUNGSURLAUB


»Alles ist möglich, und alles ist unmöglich. Und es liegt in unseren Händen und nicht in unseren Händen.« In Libbys Kopf hallten die Worte nach, die ihr der letzte Verdächtige, den sie verhörte, zugeflüstert hatte, während er ihr den winzigen zusammengerollten Zettel, auf dem seine Mail-Adresse stand, in die Haare steckte. Libby raste mit ihrem Motorrad auf der Straße nach Norden, und unablässig toste der Wind in ihren Ohren: Alles ist möglich, und alles ist unmöglich. Der Vorderreifen der schweren Maschine verschlang den schwarzen Asphalt. Der starke Motor dröhnte zwischen ihren Schenkeln. Sie beugte sich nach vorn, stemmte sich gegen den Wind. Näherte sich aufheulend den schnellen Autos, die vor ihr zu kriechen schienen, ging in Schräglage und fegte an den Blechkisten mit ihren abgeschirmten Insassen vorbei, ließ sie weit hinter sich zurückfallen. Sie lieferte sich ungeschützt und schrankenlos dem reinen Erleben aus, das auf sie eindrang, sie bestürmte, sich donnernd vor und hinter ihr brach. Gejagt.

Noch am Morgen hatte Assi, Oberstleutnant Assaf Morag, Chef der Verhörabteilung, sie zu überreden versucht, ihren Entlassungsurlaub um einige Tage zu verschieben.

»Heute Nacht ist ein megafetter Fisch eingetroffen«, so bezeichnete er den letzten fahndungsdienstlich Gesuchten, der ins Netz gegangen war, »ein weißer Hai, eine Bestie. Hättest du keine Lust, ihm den Bauch aufzuschlitzen und ihn für den Schabbat auszunehmen?«

»Jeder im Team wird diese Arbeit gerne machen«, hatte sie erwidert.

»Aber du erledigst in zwei Tagen, was andere in zwei Wochen nicht schaffen«, konstatierte Assi.

»Übertreib nicht«, sagte sie.

»Seit siebenundzwanzig Jahren mach ich jetzt den Job«, sinnierte Assi laut. »Seit der ersten Intifada. Ermittler und Ermittlerinnen habe ich hier schon einige erlebt. Keiner kam auch nur in die Nähe von deiner Verhörtechnik. Dutzende Male hab ich dich dabei beobachtet. Jedes Mal, wenn man dir einen dicken Fisch zur Behandlung reingebracht hat, bin ich fasziniert vor dem Monitor gesessen. Hab dir zugeschaut, wie du sie schuppst …«

»Was hab ich mit ihnen gemacht?«

»Du ziehst ihnen die Schuppen ab, du bringst sie dazu, zu lachen, ernst zu werden, sich aufzuregen, feuchte Augen zu kriegen, zu würgen, zu heulen. Ja! Du bringst sie zum Weinen – die hartgesottensten Mörder, die ich liebend gern umgelegt hätte, bevor wir sie dummerweise lebend erwischt haben. Du berührst einen verborgenen Punkt in ihnen, den nur du mit deinen Laseraugen siehst, und die Hunde machen den Mund auf und spucken die ganze Scheiße aus, die sie im Bauch haben. Und das alles ohne jede Anstrengung. Du versuchst nicht, Empathie zu demonstrieren, du täuschst kein Mitleid, keine Teilnahme oder Verständnis für die Motive und Taten dieser Kerle vor. Ein Wort hier, ein Wort da, und der kälteste Fisch macht den Mund auf und redet. Blubbert von seinem Vater, von seiner Mutter, von den Brüdern und Schwestern und Freunden! Merkt gar nicht – oder erst recht –, wie er locker von seine