GESELLSCHAFTLICHE VERÄNDERUNGEN
Vor Kurzem war ich wieder einmal in der Stadt, in der ich vor mehr als 35 Jahren mein Abitur gemacht habe. Als ich durch die Gassen der Altstadt schlenderte, kam mir alles so vertraut vor, als ob ich nie weggewesen wäre. Der Marktplatz, die Gasthäuser, die Treppe hinauf zur Burg: Alles war wie früher. Selbst die Bäckerei, in der wir regelmäßig eingekauft haben, gab es noch. Die Häuser der Altstadt werden wie damals vom Turm der evangelischen Stadtkirche überragt. Im Großen und Ganzen, so schien es mir für einen Moment, hat sich nichts verändert.
Doch dieser Eindruck trügt! Auch wenn äußerlich vieles an die Zeit von damals erinnert: Die Welt ist eine andere geworden. Die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte sind tiefgreifend und wirken zurück auf das Selbst- und Wirklichkeitsverständnis jedes Einzelnen – auch wenn dies nicht allen gleichermaßen bewusst ist. In den größeren Städten sind die gesellschaftlichen Veränderungen unübersehbar. Aber auch auf dem Land machen sie sich bemerkbar, wenngleich vielleicht erst auf den zweiten Blick. Schlagwortartig lassen sich die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte folgendermaßen benennen:
PLURALISIERUNG
Unsere Gesellschaft ist in vielerlei Hinsicht plural geworden.
Sie ist gekennzeichnet durch eine Vielfalt von Weltsichten.1 Das war früher anders. Im Mittelalter hatte – zumindest offiziell – die Kirche die Deutungshoheit für alle wichtigen Lebensbereiche. Dieses Monopol ist im Lauf der Zeit verloren gegangen; das Zeitalter der Aufklärung spielte dabei eine wichtige emanzipatorische Rolle.
Die vielen verschiedenen Weltsichten, die die europäische Gesellschaft heute prägen, haben unterschiedlichen Charakter und sind in sich vieldimensional. Es gibt die naturwissenschaftliche Weltsicht, die marktwirtschaftliche Weltsicht, die Weltsichten der Kunst und Poesie, politisch-gesellschaftliche Weltsichten (Demokratie, Marxismus u. a.), religiöse Weltsichten (Christentum, Buddhismus, Esoterik usw.) und viele weitere. Alle haben sie einen Wahrheitsanspruch, jede auf ihre Weise. Es liegt am Einzelnen, ihnen einen Wahrheitswert zuzumessen – oder auch nicht. Während einige dieser Weltsichten, vor allem die naturwissenschaftliche, die marktwirtschaftliche und mit Einschränkungen auch die demokratische Weltsicht, in ihrer Geltung weithin unumstritten sind und die spätmoderne Gesellschaft entsprechend prägen, gelten andere Weltsichten aus Sicht der Mehrheit als optional beziehungsweise sind in ihrem Wahrheitsanspruch angefochten.
Auch Werte und Lebenseinstellungen haben sich pluralisiert. Das früher dominante Familienmodell, bestehend aus Vater, Mutter und (zwei) Kindern – um ein Beispiel zu nennen –, wurde abgelöst von einer Vielzahl von Lebensformen: Es gibt immer mehr Singles und Patchworkfamilien und gleichgeschlechtliche Lebensformen sind ge