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Unsichtbare Armut
Der enorme Erfolg unseres industriellen und kapitalistischen Systems, materiellen Reichtum zu schöpfen, lässt uns leicht seine Folgen übersehen. Wir haben so viele Dinge, Angebote, Möglichkeiten, Annehmlichkeiten wie keine Generation vor uns. Der Preis, den wir und andere für diesen materiellen Wohlstand zahlen, ist schwer greifbar. In jüngster Zeit wird viel unternommen, um auf die ökologischen Folgen aufmerksam zu machen: das Massensterben von Tieren und Pflanzen, die Entgleisung des Erdklimasystems, die weltweite Zerstörung von Ökosystemen. Und schon seit Jahrzehnten werden die sozialen Folgen angeprangert. Hungernde Kinder in Afrika und Asien werden wirkungsvoll in Szene gesetzt, um Spenden zu sammeln. Immer wieder wird auf die menschenverachtenden Bedingungen hingewiesen, unter denen Arbeitenden in den Fabriken dieser Welt schuften, um unsere Billigprodukte herzustellen. Und das sind natürlich nur zwei Beispiele von vielen.
Jede dieser Kampagnen scheint mit einem anklagenden Finger auf uns zu zeigen und zu sagen: »Schau, wie gut es dir geht, während andere leiden!« Aber stimmt das? Geht es uns wirklich so gut? Meine Wahrnehmung ist, dass es uns ganz und gar nicht gut geht. Und zwar nicht nur, weil andere leiden, sondern auch, weil wir selbst leiden. Wir sind eingesperrt in einen goldenen Käfig und finden den Schlüssel nicht mehr. Wir ersticken an Dingen und haben keinen Raum mehr, um zu atmen. Wir sind angewiesen auf einen nie abreißenden Strom an Konsum und Unterhaltung, um den inneren Mangel im Schach zu halten.
Wahrscheinlich findest du jetzt, dass ich übertreibe. Oder vielleicht sogar, dass ich Hirngespinste habe. Wo soll denn all dieses große Unglück sein? Womöglich bin ich einfach selbst ein unglücklicher Mensch, der seinen Mangel auf alle anderen projiziert. Zumindest was den letzten Punkt angeht, kann ich dir versichern, dass das nicht zutrifft. Was die ersten Punkte betrifft, möchte ich dir näher erklären, wie ich zu meiner Einschätzung komme: Es sind zum einen die Gesichter. Wenn ich an das Bali meiner Kindheit zurückdenke, dann sind es vor allem die Gesichter, an die ich mich erinnere. Vor meinem inneren Auge sehe ich Menschen, die von innen zu leuchten scheinen.
Ich hatte das, ehrlich gesagt, fast vergessen. Doch dann bekam ich Post. Es geschah vor gar nicht langer Zeit, als ich mit der Be the Change Stiftung das Projekt »Bäume für den Wandel« ins Leben rief. Mit diesem Projekt lade ich Menschen ein, einen Teil ihres Geldes regelmäßig einzusetzen, um Bäume zu pflanzen. Von unserem Pflanzpartner Eden Projects bekam ich Fotos zur Verfügung gestellt. Sie zeigen Menschen, die in den ärmsten Regionen der Welt Bäume pflanzen. Es handelt sich um die Ärmsten der Armen, die durch das Projekt sinnvolle Arbeitsplätze zu fairen Bedingungen bekommen. Als ich in ihre Gesichter blickte, kamen mir die Tränen. Ja, ich sah Menschen, die fast nichts haben. Doch vor allem sah ich genau jenes Leuchten, das ich fast vergessen hatte. Nicht in jedem Gesicht, nein, aber in einigen.
Vielleicht hast du ein solches Leuchten auch schon mal gesehen, obwohl es bei uns kaum zu finden ist. Als mein Mann, der Südtiroler ist, die Bilder sah, sagte er spontan: »Ich kenne solche Gesichter. Ich kenne sie von Bergbauern, die bei uns noch ganz einfach irgendwo hoch oben leben.« Das meine ich mit: Wenn ich mich heute in unserer Gesellschaft umsehe, dann sehe ich keine Menschen, denen es »s