: Victoria Grader
: Caspers Weltformel Roman
: Diederichs Verlag
: 9783641255459
: 1
: CHF 5.30
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Liebe kann man nicht berechnen
'Ich habe eine Formel. Hab' es zwar noch nicht nachgerechnet, aber eigentlich müsste es funktionieren. Ich mach' einfach immer das Gegenteil von dem, was ich sonst machen würde. Verstehst du?'

Der Physik-Doktorand Casper aus Berlin hat eine Formel entwickelt, mit der er soziale Interaktionen berechnen kann. Mit Hilfe der Formel kann er all das, was ihm widerfährt, vorherbestimmen. Seine Lebensfreude geht in der Gleichförmigkeit verloren - bis er die erstbeste Gelegenheit am Schopfe packt, um auszubrechen: Eine Reihe von Zufällen verschlägt Casper nach Budapest, wo er auf Ilona trifft. Im Bemühen, die Dinge und Menschen vorherzusehen, kommt Casper bei ihr an seine Grenzen. Mit ihrer verträumten Lebensweise ist sie so ganz das Gegenteil von ihm. Doch gerade die Unterschiede sind es, die beiden helfen, einen neuen Blick auf das Leben zu gewinnen.

Victoria Grader (Jg. 1992) hat in München und Venedig Praktische Philosophie studiert. Sie promoviert im Bereich der Technikphilosophie und lehrt Ethik für Naturwissenschaftler. Die Autoren der Münchner Autorengruppe Prosathek sagen von ihr: 'Victoria erzählt vom Surrealen im Sinnesmeer.'

CASPER

An diesem Sonntag im August ist es so heiß, dass sich selbst die Tauben ein schattiges Plätzchen suchen, um nicht unter der Sonne zu verbrennen. Casper schultert seine Reisetasche, in der anderen Hand schwebt die Aktenmappe über glühendem Asphalt.

Für die Bahnreise nach München wird ein ganzer Tag draufgehen. Was bleibt ihm auch anderes übrig? Er hat versprochen zu kommen, jetzt muss er sich daran halten.

Die Mutter wird sein Bett frisch beziehen, ein neues vegetarisches Rezept ausprobieren. Am Montag werden sie zu zweit eine Ausstellung besuchen, nach jedem Mittagessen spazieren gehen. Am Samstag wird er in einer Bar sitzen und belanglose Gespräche führen, nachts in die Tasten seines Laptops hacken, dann wieder nach Berlin fahren.

Morgens aufstehen, in die Uni radeln, irgendwas essen, zu Bett gehen und so weiter, bis er wieder nach München muss. Er seufzt, dann ist er an der Reihe am Ticketschalter.

»Unjünstiges Wetter, um lange Bahnreisen anzutreten«, näselt der Service-Mitarbeiter, als er das Ticket durch den Schlitz der Glaswand schiebt. Mit dem Ticket entweicht stickige Luft aus dem Schalterkabuff. Casper kann sie fast schmecken.

»Wahrscheinlich schon.«

Casper öffnet seine Aktentasche, legt das Ticket hinein und schließt sie wieder.

»Und der Hut? Mene Jüte, muss doch janz schön heiß unter dem Ding sein …!«

Casper zuckt mit den Schultern.

»Ihnen einen schönen Tag noch.« Er zieht den Hut zur Verabschiedung. Als er sich im Fortgehen noch mal umdreht, sieht er, dass der Mitarbeiter den Kopf schüttelt. Während er den Abriss faltet und den Locher ansetzt, murmelt er vor sich hin, offensichtlich leicht verstört.

Es ist nicht im Geringsten verwunderlich, dass ausgerechnet der Service-Mitarbeiter so auf den Hut reagiert: Hüte sind heutzutage nicht mehr allgegenwärtig. Casper zieht sein Notizbuch aus der Jackentasche und blättert, bis er die richtige Seite gefunden hat, macht ein Kreuz, schließt das Notizbuch und lässt es wieder in die Tasche gleiten.

Es ist der hundertzwölfte Service-Mitarbeiter, der seinen Hut anstarrt, der einundneunzigste, der einen Kommentar dazu abgibt. Casper dreht sich erneut um, der Schaltermensch sagt irgendwas zur Trennwand und nickt. Die Kabine neben ihm ist leer. Ein sauberer Schlag mit der flachen Hand auf den Locher, dann zieht er ein kariertes Tuch aus der Brusttasche und wischt sich die Schweißperlen von der Halbglatze, bevor er das Stück Papier abheftet.

Jeden Tag sitzt er da, wahrscheinlich acht Stunden lang und atmet die stickige Luft. Druckt Fahrscheine aus und heftet Quittungen ab. Wenn er sich umdreht, sieht er eine graue Wand. Wenn er sich nach links dreht, sieht er eine graue Wand. Wenn er sich nach rechts dreht, sieht er eine graue Wand. Er schiebt Papier durch die Luke in der Glaswand und fragt Leute, warum sie bei heißen Temperaturen Hüte tragen.

Wo er wohl abends hingeht, wenn er sein Kabuff absperrt? Kip