»Noch nicht umkehren«, bettelte Heidi, ein entzückendes kleines Mädchen von fünf Jahren. Sie drängte sich an Schwester Regine heran. »Bitte, bitte, gehen wir noch bis zum Bach. Dort haben wir das letzte Mal die Enten gesehen.«
Schwester Regine strich der Kleinen über das hellblonde Haar, das zu zwei Rattenschwänzchen gebunden war, dann sah sie die anderen Kinder an. Sie waren in verschiedenem Alter und kamen alle aus dem Kinderheim Sophienlust. Dort gab es Kinder, die dauernd in dem Heim wohnten, aber auch solche, die nur vorübergehend Aufnahme fanden, weil ihre Eltern sich aus irgendwelchen Gründen eine Zeitlang nicht um sie kümmern konnten.
»Ja, bitte, gehen wir noch weiter«, rief nun auch Vicky Langenbach. Sie gehörte mit ihrer um zwei Jahre älteren Schwester Angelika ebenfalls zu den Dauerkindern von Sophienlust. Die beiden hatten ihre Eltern vor einigen Jahren durch ein Lawinenunglück verloren, fühlten sich aber – genau wie die anderen Kinder – in Sophienlust sehr wohl. Im Grunde wollte keines der Kinder irgendwo anders leben. Nicht umsonst wurde Sophienlust ›Das Heim der glücklichen Kinder‹ genannt. Dazu trug zweifellos auch Regine Nielson bei, die Kinder- und Krankenschwester von Sophienlust. Sie war erst achtundzwanzig Jahre alt, hatte aber bereits großes Leid erfahren. Durch einen Unfall hatte sie ihren Mann und ihr dreijähriges Töchterchen verloren. In Sophienlust hatte sie eine neue Aufgabe gefunden und ging nun ganz in der Fürsorge um die Schützlinge des Heims auf.
»Gut, gehen wir noch bis zum Bach. Dort können wir dann aber nicht lange bleiben, sonst wird es zu spät«, entschied Schwester Regine.
Den letzten Einwand beachteten die Kinder nicht. Sie stürmten davon. Schmunzelnd beschleunigte auch Schwester Regine ihren Schritt.
»Wir können ja auch ein Lied singen«, schlug ein dreizehnjähriges Mädchen vor.
»Ich gebe das Zeichen«, rief Heidi sofort eifrig. Und schon begann sie: »Laa, Laaaa.«
»Was willst du eigentlich singen?« erkundigte sich Angelika, Vickys Schwester.
Irritiert sah die Kleine in die Runde. »Ein Männlein steht im Walde. Ist das nicht schön?«
»Schon, aber aus deinem Lalala konnte man das nicht entnehmen.«
»Du hast nur nicht richtig zugehört«, meinte Heidi selbstbewußt. »Onkel Wolfgang sagt, daß ich sehr schön singe. Er muß es ja wissen, denn er ist Musiklehrer.«
»Auch Zeichenlehrer«, warf Fabian ein.
Heidi durchbohrte den Jungen geradezu mit ihrem Blick. »Wollen wir jetzt singen oder streiten?«
»Singen«, kam einstimmig die Antwort der Kinder, und gleich darauf ertönte aus vielen Kehlen das bekannte Lied. Auch Schwester Regine sang mit.
Plötzlich brachen die Stimmen ab.
»Oh!« ertönte es statt dessen. Die Kinder verharrten erschrocken.
»Er muß gestürzt sein«, rief Pünktchen. So wurde die dreizehnjährige Angelina Dommin von allen genannt. Sie verdankte diesen Spitznamen ihren unzähligen Sommersprossen. Zusammen mit Schwester Regine eilte sie jetzt auf den Jungen zu, der regungslos am Boden lag.
»Da ist sein Fahrrad«, rief Fabian. Mit großen, erschrockenen Augen kam er ebenfalls heran.
»Die Mütze gehört sicher auch ihm.« Heidi zeigte auf die karierte Kappe, die unweit des Fahrrades im Gras lag. Da niemand auf sie achtete, fragte sie: »Schläft er?«
Schwester Regine hatte sich bereits über den Jungen gebeugt. Nun sah sie hoch. »Er ist bewußtlos«, erklärte sie. »Wir müssen ihn ins Haus schaffen und Frau Dr. Frey verständigen.«
»Tut ihm etwas weh?« fragte Heidi mitleidig.
»Jetzt spürt er nichts.« Schwester Regine strich dem Jungen das Haar aus der Stirn. Eine Platzwunde wurde sichtbar. »Er muß mit der Stirn auf einen Stein gefallen sein«, meinte sie. Dann sah sie die Kinder fragend an. »Kennt jemand von euch den Jungen?«
Alle schüttelten verneinend den Kopf.
»Ich laufe zum Haus zurück und hole die Liege«, erbot sich Fabian.
»Ich komme mit.« Angelika lief hinter ihm her.
»Können w