1
Kloster Eberbach
Mittwoch, der 15. September
»Ist jemand gestorben? Ihr zieht Gesichter wie auf einer Beerdigung!«
Für einen Moment wandten sich alle Blicke dem Neuankömmling zu, der sich lächelnd umsah und die Aufmerksamkeit aufzusaugen schien. Auch Norma ließ sich in seinen Bann ziehen. Bisher kannte sie Sören I. Wahler nur aus den Abendprogrammen des Fernsehens, in denen er bevorzugt als Koryphäe der Wissenschaften oder Chefarzt zu erleben war. Aalglatte Manager und abgebrühte Rechtsanwälte verkörperte er ebenso überzeugend. Erfolgsverwöhnte Männer, die sich nicht mit Selbstzweifeln belasteten, schienen ihm auf den Leib geschrieben zu sein.
Mit seiner flapsigen Bemerkung hatte der Schauspieler die trübe Stimmung auf den Punkt gebracht. Tuschelnd und mit bedrückten Mienen standen die Gäste in Grüppchen beieinander, obwohl der Grund ihres Zusammentreffens alles andere als Anlass zu Trübsinn gab. Ecki Winterstein, ein renommierter Fernsehregisseur, hatte zum Empfang nach Eberbach eingeladen – ins Mönchsrefektorium des Klosters – und würdigte damit stilsicher den Start der Dreharbeiten für sein jüngstes Projekt. Unter der mit barockem Zierwerk üppig bestückten Stuckdecke, die den einstigen Speisesaal der Zisterzienser überspannte, schienen sich die zwei Dutzend Personen zu verlieren. Wie Sören I. Wahler mochten es vor allem Schauspieler und Schauspielerinnen, aber auch andere Mitwirkende im Drehteam sowie Freunde und Geschäftspartner des Regisseurs sein, vermutete Norma. Alle waren ihr fremd bis auf Timon und Lutz, in deren Begleitung sie gekommen war. Seit Lutz Tann im Ruhestand war und seinen Verlag eher als Liebhaberei denn als Geschäft betrieb, gönnte er sich den Luxus, auch Bücher mit unpopulären Themen herauszugeben. Das Manuskript, das ihm Ecki Winterstein ans Herz gelegt hatte, fiel in diese Kategorie. Der Regisseur hatte sich ausgiebig mit der Historie der Psychiatrie beschäftigt, um darüber ein Dokudrama für das Fernsehen zu drehen. In einer Kombination von dokumentarischen Elementen und Spielszenen sollte eine außergewöhnliche Ära Eberbachs im 19. Jahrhundert lebendig werden: bahnbrechende Jahrzehnte, in denen das säkularisierte Kloster als »Irrenanstalt« und später als Heilanstalt Psychiatriegeschichte geschrieben hatte. Das »Buch zum Film«, die Biografie des ersten Direktors der Eberbacher Heil- und Pflegeanstalt, sollte das Projekt vervollkommnen. Mit der Einladung zu diesem Empfang wollte Winterstein seinem Verleger danken.
Als Norma sich umschaute, entdeckte sie Timon und Lutz beim Studium der Weinflaschen, die auf einem Tisch zum Ausschank bereitstanden. Das intensive Betrachten der Etiketten sollte den Männern wohl die Zeit vertreiben. Bisher waren alle Gläser leer geblieben, und kein Gast traute sich, Hand an die Häppchen auf dem Buffet zu legen. Norma konnte niemanden entdecken, der Anstalten gemacht hätte, das Wort zu ergreifen und den Empfang offiziell zu eröffnen. Alle schienen angespannt auf den Regisseur zu warten. Sie bemerkte eine Frau, die nervös an der Fensterreihe entlangstrich und dabei abwechselnd auf ihr Mobiltelefon sah oder erwartungsvoll zum angrenzenden Klosterhof hinausstarrte.
Die Frau, eine sportliche Erscheinung Ende 50 oder darüber, t