Cascade Mountains,
Oregon
Jetzt
»Lucy? Luuucy? Ich weiß, wo du bist«, wisperte die formlose, finstere Gestalt, die durch die Dunkelheit schlich. »Du kannst dich nicht vor mir verstecken. Luuucy!«
»Nein!«, versuchte sie zu schreien, doch sie brachte keinen Laut hervor.Lauf!, befahl sie sich selbst, aber ihre Beine gehorchten ihr nicht. Es war, als würde sie in Treibsand feststecken, und als sie die Hände hob, sah sie, dass sie blutverschmiert waren. Mit dickem, warmem, klebrigem Blut.
»Luuucy«, zischte die Gestalt erneut, und wieder blieb ihr der Schrei in der Kehle stecken.
Lucy riss die Augen auf und wusste für eine Sekunde nicht, wo sie war. Blinzelnd spähte sie in das dunkle, unvertraute Zimmer.
Renee! Wo war ihre Tochter? O Gott!
Die Realität kehrte mit voller Wucht zurück. Sie wusste, dass sie geträumt hatte, dass ihre Albträume wieder da waren. Ihre Tochter und der Hund lagen neben ihr und schliefen. Wie lange waren sie schon in diesem Blockhaus? Drei Tage? Vier?
Lucys Herz raste, ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt wegen der so realen, beunruhigenden Bilder. Sie warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass es nicht mal drei war. Bis es hell wurde, würde es noch Stunden dauern. Das alte Blockhaus ächzte und seufzte in dem schweren Schneesturm, der draußen tobte. Sie stand auf, tappte ins Wohnzimmer und legte ein weiteres Scheit ins Feuer. Die Flammen züngelten auf und leckten knisternd am Holz.
Aufgewühlt trat Lucy an das Fenster mit den kaputten Läden und spähte hinaus. Der Albtraum hatte ein mulmiges Gefühl hinterlassen, und sie musste wieder einmal an jene Nacht denken, in der alles angefangen hatte. Die Nacht, in der Ray Mama attackiert hatte. So war es doch gewesen, oder nicht? Ray war ins Schlafzimmer gekommen und hatte einen Streit angefangen. Mama hatte im Bett gelegen und … Sie gab sich alle Mühe, sich zu erinnern, doch sie konnte nur Bruchstücke des grauenvollen Abends einfangen.
Sie hatte sich im Bad versteckt. Den Streit gehört. Ray, der sich über Mama beugte. Und dann war das Licht ausgegangen.
Auch jetzt noch, so viele Jahre später, fing Lucys Herz an, furchtsam gegen ihren Brustkorb zu hämmern. Sie erinnerte sich, dass sie aus ihrem Versteck hinter der Badezimmertür gestürmt und zum Bett gerannt war, die große Schere hoch erhoben. In dem Moment war die Schlafzimmertür aufgeflogen. Flurlicht fiel ins Zimmer.
»O Gott!«, kreischte Marilyn und rannte zu Mama.
»Was zum Teufel …?«, schrie Clark.
Lucy stieß zu.
Ray brüllte vor Schmerz, doch er ließ Mama nicht los. »Du kleines Miststück!«
Jemand versuchte, Lucy wegzuzerren, und sie hörte das Geräusch, mit dem die Schere aus dem Fleisch gezogen wurde. Eine Hand schloss sich darum und entzog sie Lucys Griff.
Mama … Mama wand sich noch immer unter Ray. Etwas bewegte sich.
Blamm! Vor ihrem inneren Auge erblickte Lucy das Mündungsfeuer einer Pistole. Direkt aufs Bett gerichtet. Hörte Schreie. Sie meinte, einen Arm zu sehen, der in die Höhe schoss. Die Schere blitzte im Flurlicht auf, bevor sie erneut herabsauste.
Mama schrie. Gurgelnd. Hustend. Panisch. Um ihr Leben kämpfend. Und … und …
»Und was?«, fragte Lucy laut ins Blockhaus hinein, das genauso finster war wie ihre Erinnerung. »Was?«
Sie schlug die Hände vor die Augen und grub die Finger in die Kopfhaut. An dieser Stelle hörten ihre Erinnerungen auf. Mehr hatte sie bislang nicht an die Oberfläche holen können. Sie konzentrierte sich und versuchte, auch den Rest auszugraben, aber es gelang ihr nicht. Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war die Polizistin Lorna Davis, die sie auf der Hüfte die Treppe hinuntertrug, nachdem Mama auf einer Bahre aus dem Schlafzimmer gebracht worden war.
»Verdammt.« Frustriert stapfte Lucy auf den Fußboden.Hör auf damit. Du willst doch nicht, dass Renee aufwacht. Reiß dich zusammen.
Doch exakt das war das Problem – sie konnte sich noch so sehr zusammenreißen, es gelang ihr einfach nicht, sich zu erinnern. Selbst Unmengen an Psychotherapiestunden hatten ihr nicht weiterhelfen können, genauso wenig wie Schwester Rosa, Schulpsychologin und Beratungslehrerin am Internat in Salzburg. Oder die Psychologen nach ihrer Rückkehr in die Staaten. Nicht einmal der Hypnot