ZUR EINFÜHRUNG
Wenn wir es für angebracht halten, das letzte Werk des berühmten französischen Philosophen aus dem Jahre 1934, in dessen beiden ersten Kapiteln er eine Art Bilanz seiner philosophischen Lebensarbeit zieht, der deutschen Öffentlichkeit zugänglich zu machen, so geschieht dies aus der Überzeugung heraus, daß der Zeitpunkt gekommen ist, wo eine allseitig gerechte Würdigung der treibenden Denkmotive dieses originellsten Philosophen der jüngst vergangenen Epoche und seine Einordnung in den geistesgeschichtlichen Zusammenhang unserer Zeitwende möglich geworden ist. Eine solche umfassende Würdigung des Lebenswerkes eines philosophischen Klassikers ist natürlich nicht möglich in dem engen Rahmen einer kurzen Einführung, wie sie hier geboten werden kann. Ich beschränke mich daher auf die Herausstellung einiger wesentlicher und zugleich neuer Gesichtspunkte, die geeignet sind, den Ertrag der Bergsonschen Denkarbeit in seiner Bedeutung für unsere Zeit in eine ganz neue Beleuchtung zu rücken.
Grundlegend für das Verständnis der Bergsonschen Philosophie ist zunächst der enge geistesgeschichtliche Zusammenhang, der zwischen der zentralen Problematik der Bergsonschen Philosophie und der revolutionären Entwicklung der exakten Naturwissenschaften seit der Jahrhundertwende bis zum Ausbau der Atomphysik unserer Tage besteht. Dieser Zusammenhang ist bisher noch nicht genügend erkannt worden und kann vielleicht auch erst richtig vom jetzigen Stadium der Entwicklung der exakten Wissenschaft aus richtig gesehen werden. Hat man ihn einmal klar erkannt, so fallen damit zahllose Mißverständnisse und Mißdeutungen der Bergsonschen Philosophie von selbst in sich zusammen. Versuchen wir, bei der Enge des hier gebotenen Rahmens, diesen Zusammenhang in stichwortartiger Kürze anzudeuten:
Bergsons Philosophie, die im Grunde nur die organische Entfaltung und immer neue Anwendung einer fruchtbaren und tiefen Intuition darstellt, entsteht in einer Zeit (sein erstes grundlegendes Werk ”Essai sur les données immédiates de la conscience” erschien im Jahre 1889), wo gerade ein revolutionärer Umbruch in den Grundlagen der exakten Wissenschaft sich in der elektromagnetischen Theorie von Maxwell angebahnt hatte. Diese Theorie der elektromagnetischen Kraftfelder mit deren Verselbständigung gegenüber einem substantiellen Träger (Magnetfelder ohne Magnet und elektrische Felder ohne Elektron) war die Einleitung zu einer weiteren Entwicklung der Elektrodynamik, die zu einer völligen energetischen Auflösung des in der alten Mechanik grundlegenden Begriffes einer raumerfüllenden und raumbehauptenden Masse führte. Gleichzeitig fiel der „Äther“ als atomistisch konstituiertes Medium und „Träger“ der dynamischen Spannungsfelder des Raumes, bis ihm von der Relativitätstheorie der völlige Garaus gemacht wurde. Masse wurde gleich Energie, und die Grenzen zwischen korpuskularem Zustand, Kraftfeld und „Welle“ verwischten sich schließlich völlig, bis sie in der Quantenphysik zu bloß verschiedenen Gesichtspunkten bei der Deutung experimenteller Daten wurden. Raum und Zeit verloren endgültig ihren bloß formalen Charakter und wurden dynamisiert; sie verschmolzen miteinander zu einer vierdimensionalen Funktionalität. Damit verschwind