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Heute
Sharine stand auf dem geländerlosen flachen Dach ihres neuen Zuhauses in der sandigen Landschaft Marokkos und blickte hinaus auf die vom Licht der untergehenden Sonne vergoldeten Mauern der umliegenden Häuser. Das Licht erinnerte wirklich an flüssiges Gold, war dicht und satt, wie man es nur bei Sonnenuntergängen erlebte, wenn es schien, als sei die Sonne selbst geschmolzen und würde gerade von einem wohlmeinenden Maler auf die Leinwand verteilt.
In den Straßen unter ihr gingen Vampire und Sterbliche eifrig ihren Geschäften nach, bauten die Stände für den abendlichen Markt auf oder kehrten nach getaner Arbeit nach Hause zurück. Immer mal wieder blickte einer von ihnen hoch und entdeckte sie. Sharine war sehr stolz darauf, dass die Kinder aufgeregt und freudig winkten, während sich die Erwachsenen respektvoll verneigten.
Anfangs, kurz nachdem sie hierhergekommen war, hatte ihr Anblick dieselben Leute verängstigt auseinanderstieben lassen. Es war das Erbe des Engels, der früher hier Aufsicht geführt hatte und dem Macht und Grausamkeit wichtiger gewesen waren als die Verantwortung für die ihm anvertrauten kostbaren Güter. In Lumia bewahrte die Engelheit ihre größten Kunstwerke und Schätze auf, aber der Ort wäre ohne das blühende Leben in der angrenzenden Siedlung nur kalt und einsam gewesen. Deshalb sah Sharine auch in der Stadt und ihren Bewohnern einen kostbaren Schatz, der ebenso wichtig war wie diejenigen, die innerhalb der Mauern der Festung beschützt wurden.
Sharine breitete die Flügel aus und hielt sie eine ganze, kostbare Minute lang gedehnt, bis sie sie langsam wieder in die korrekte Position auf ihrem Rücken zusammenfaltete. Dabei achtete sie auf absolute Muskelkontrolle. Das war eine der Kräftigung dienende Übung, die sie lange vernachlässigt hatte, als ihr Verstand einem zerbrochenen Kaleidoskop geglichen hatte und ihr jegliche Disziplin abhandengekommen war.
Große Teile des letzten halben Millenniums – vielleicht ein oder zwei Dekaden mehr oder weniger – existierten in ihrem Kopf nur noch als Bruchstücke. Als seltsam verschwommene, durch einen zerbrochenen, rissigen Filter betrachtete Bilder, die oft kein Ganzes ergaben, wenn sie versuchte, sie zusammenzufügen. Sie würde die Zeit nie zurückbekommen, in der ihr lachender, frecher kleiner Sohn zu einem mutigen und starken Mann herangewachsen war.
Bei diesem Gedanken loderte heiße Wut in ihr auf.
»Lady Sharine.«
Sie wandte Trace den Kopf zu. Der schlanke Vampir mit den hübschen, sehr dunklen grünen Augen und einer Haut, die sie stets an Mondlicht denken ließ, besaß die Stimme eines Poeten und seidig schwarze Haare. Er erinnerte Sharine immer ein wenig an ihren Sohn. Nicht von der Farbgebung her, darin war jeder der beiden Männer einmalig. Aber genau wie Trace besaß ihr Sohn eine ganz bestimmte Art Charme, die öfter für Herzflattern sorgte.
Denn allem Anschein nach waren eine Menge Leute für diesen Charme empfänglich.
»Was hast du für mich, Jüngling?«, erkundigte sie sich mit liebevollem Lächeln.
Trace schüttelte mahnend den Kopf, wobei die scharf gemeißelten Wangenknochen Schatten auf seine Wangen warfen. Traces Schönheit hatte nichts Weiches.