: Ulla Mothes
: Geteilte Träume Eine deutsche Familiengeschichte. Roman
: Verlagsgruppe Lübbe GmbH& Co. KG
: 9783751703871
: 1
: CHF 8.90
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 447
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Eine junge Frau zwischen zwei Familien, zwischen Ost und West - ein großer DDR-Familienroman um das Glück im Kleinen und Existenzkämpfe im Großen


Berli , 1992: Erst als junge Frau erfährt Ingke, dass sie als Säugling zu DDR-Zeiten adoptiert wurde. Wer sind ihre wahren Eltern? Warum haben sie sie einst weggegeben? Und was bedeutet das für ihr Leben heute? Sie macht sich auf die Suche und stößt auf die Geschichte ihrer Herkunftsfamilie, die nach einem gescheiterten Fluchtversuch ihre Tochter verlor. Auf einmal hat die junge Frau zwei Familien, die um sie ringen: Ihre leibliche Mutter, die irgendwann von der BRD freigekauft wurde und bisher nichts über Ingkes Verbleib weiß. Und ihre vermeintlichen Eltern, bei denen sie behütet und geliebt aufgewachsen ist. Doch muss sie sich tatsächlich entscheiden?




Ulla Mothes, geb. 1964, wuchs in der Mark Brandenburg und in Ostberlin auf. Als Studentin stellte sie einen Ausreiseantrag, weil sie nicht wollte, dass ihre Kinder mit einem Maulkorb aufwachsen müssen. Es folgten Exmatrikulation, Arbeit als Garderobenfrau, Ausreise 1986. Heute lebt sie als Lektorin, Autorin und Schreibcoach in Berlin. Ihre zwei erwachsenen Kinder dürfen noch immer sagen, was sie wollen.

1


Berlin, April 1992

Name: Beerenhain. Ingke stapfte über den Krankenhausflur, und der Name auf dem Formular brannte sich ein in ihren Blick. Das war sie, Ingke Beerenhain. Beerenhain wie der Name des Gutes, von dem ihre Familie stammte. Seit ein paar Minuten wusste sie, dass das Lug und Trug war. Sie war keine Beerenhain, sondern eine Schröder. Ihre schokoladenbraunen Augen schwammen in Tränen, als sie so schnell wie möglich dem Aufzug zustrebte. Glücklicherweise war niemand in der Kabine, als sie einstieg. Sie strich sich die dunklen Locken von den nassen Wangen.

Die ganze Beerenhainfamilie hatte ovale Gesichter, blaue oder zumindest helle Augen und mehr oder weniger sandblondes Haar, eine Farbe wie der karge Boden im nördlichen Brandenburg, woher sie stammte. Nur ihre Mutter Maren, die nicht ihre Mutter war, wie Ingke nun wusste, war brünett. Die Beerenhains waren alle groß und schlank, Maren war zierlich, sie selbst dagegen knuffig. Manchmal fühlte sie sich in diesem Körper deshalb ein wenig fremd. Kämpferisch wischte sie die Tränen weg. Sie hatte jedenfalls viel schönere Hände als alle Beerenhains zusammen: weich und rund, mit ovalen Fingernägeln. Und einen Kirschmund hatte sie auch. Einen so schönen Mund hatte höchstens noch Rosa, Onkel Pauls Tochter, von wem auch immer.

An diesem Vormittag war Ingke mit ihrem Arbeitsbuch fürs Matheabitur in den Krankenhauskomplex in Berlin-Buch gekommen, in dem ihre Eltern arbeiteten. Ihr Vater im Städtischen Klinikum, ihre Mutter in der Robert-Rössle-Klinik, in der sie jetzt auch lag. Maren Beerenhain war an Leukämie erkrankt und brauchte dringend eine Stammzellenspende. Einen Spender zu finden war nicht einfach, aber Familienangehörige kamen infrage. Deshalb hatte sich Ingke gleich nach ihrem achtzehnten Geburtstag testen lassen. Ihre Eltern waren dagegen gewesen. Dieses Verfahren sei noch recht neu, man wisse noch nicht, welche Schädigungen Spender davontrügen, und überhaupt sei das wegen des Abiturs jetzt keine gute Idee, hatten sie behauptet. Aber ihre Mutter hing zwischen Leben und Tod, und es fand sich einfach kein geeigneter Spender. Und da sollte sie gemütlich Abitur machen?

Vor einer Stunde war Ingke im Labortrakt der Robert-Rössle-Klinik eingetroffen. Ein strammer jovialer Mann im Kittel hatte sie begrüßt. »Na, da wollen wir mal sehen. Sie können stolz auf sich sein, dass Sie Ihrer Mutter das Leben retten wollen«, hatte er gesagt und auf den Besucherstuhl gewiesen. Dann zog er ihre Testergebnisse aus einem Umschlag und verglich sie mit denen aus der Patientenakte ihrer Mutter. Er blätterte und zog die Augenbrauen zusammen. Und blätterte und schwieg. Dann atmete er tief ein, entließ die Luft mit flappenden Lippen und sah sie an. »Entschuldigen Sie, dass ich das frage, aber haben Sie nicht mit Ihren Eltern vorher darüber gesprochen? Die sind ja Ärzte hier und wissen, dass so ein Test sehr teuer ist …«

»Nein«, sagte Ingke und fügte spitz hinzu: »Das musste ich ja wohl auch nicht.«

Er gab ein unwirsches »Ach« von sich. »Schon bei Blutsverwandten ist die Trefferquote sehr klein. Aber in Ihrem Fall ist das wie Lotto.« Er klang vorwurfsvoll, als hätte sie sich hier eingeschmuggelt und ihm umsonst Arbeit gemacht.

»Wie bitte?«, fragte Ingke verwirrt und musste erst einmal einen Augenblick nachdenken. Wieso war das bei ihr »wie Lotto«? Aufgebr