PROLOG
AM ZIEL UND DOCH AM START
Der letzte Springer ist am Ablauf: Nur der polnische Routinier Stefan Hula kann den Olympiasieg von Andi Wellinger noch verhindern. »Er wird doch nicht gerade heute noch so einen guten Sprung wie im ersten Durchgang auf die Schanze zaubern?«, geht es mir durch den Kopf. Dazu bräuchte er erst einmal guten Aufwind … Die zwei Norweger knapp gescheitert, der überragende Kamil Stoch zu kurz. Hula? Er geht in die Spur, hebt ab – ich starre gebannt auf den kleinen Monitor, der provisorisch für die Trainerbelegschaft aufgestellt wurde. Die grüne Linie im Blick. Ist er hoch genug in der Luft? Wird er die Markierung überspringen? Knapp davor! Was sagen die Windpunkte? Das kann eigentlich nicht reichen. Gebanntes Warten auf die Punktevergabe.
Andi Wellinger ist Olympiasieger!
Er hat es geschafft. Wir haben es geschafft. Ein Traum wird wahr. Andi reißt im Zielraum die Arme hoch. Seine Kollegen fallen ihm um den Hals. Tränen fließen.
Mein Assistent Jens Deimel und ich liegen uns in den Armen. Trainerkollegen gratulieren – von herzlich bis förmlich. Die Polen ziehen enttäuscht davon. Alexander Stöckl, Cheftrainer der Norweger und ein langjähriger Freund und Weggefährte, und ich strahlen über das ganze Gesicht. Gold für Deutschland, Silber und Bronze für Norwegen auf der Normalschanze bei den Olympischen Spielen 2018 in Pyeongchang.
Das Ganze läuft in meinem Kopf tatsächlich ab wie in einem Film. Zeitraffer. Von den Emotionen überwältigt führt man mechanisch Aktivitäten aus, nimmt weitere Gratulationen entgegen, möchte am liebsten baden im Glück, und gleichzeitig kommt die nüchterne Stimme der Vernunft: Geh runter zum Athleten. Bedanke dich bei allen Mitstreitern und Kollegen. Bediene die Presse. Erste Interviews.
Der Weg vom Trainerturm in der Nähe des Schanzentisches hinunter zum Auslauf ist weit. Zu den Athleten, zu den Medien, zu den Kollegen, zu allen Verantwortlichen. Eine schmale Treppe neben dem Aufsprunghügel führt uns zum Epizentrum des Glückes.
Es ist kalt – minus 15 Grad Celsius, dazu ein beißender Wind. 15 Minuten nach Mitternacht Ortszeit. Knapp drei Stunden sind vergangen seit der Startnummer 1. Viele windbedingte Unterbrechungen kennzeichneten den Bewerb. Der zweite Wertungsdurchgang: ein Tanz auf der Rasierklinge. Die Windgeschwindigkeit darf vier Meter pro Sekunde nicht überschreiten, sonst ist die Sicherheit der Sportler nicht mehr gewährleistet. Ein Geduldsspiel. Der vierfache Olympiasieger Simon Ammann, eingehüllt in eine Wolldecke, musste mehrmals wieder vom Startbalken zurück und wird zum Synonym für die extremen Bedingungen.
Wir, Team Deutschland, lagen nach dem ersten Durchgang mit unseren vier Springern auf den Plätzen vier, fünf, sieben und acht. Eine fantastische Mannschaftsleistung, aber bei Olympia zählen in der Öffentlichkeit nur die Medaillenränge. Was wäre bei einem Abbruch passiert? Wie hätten die Verantwortlichen im Skiverband und im DOSB (Deutscher Olympischer Sportbund), die Presse und die Fans reagiert? Wären wir getröstet oder zerrissen worden? Wir werden es nie erfahren.
In den Pausen am Trainerturm hatte ich Zeit gehabt, meine Presseaussagen im Falle eines Abbruchs gedanklich vorzubereiten. Ich bin seit zehn Jahren im Amt. Ich kenne die Mechanismen. Die kritischen Fragen. Die Zuspitzung auf Hero oder Zero! Gedanklich war ich voller Trotz. Ich hätte versucht, mich offensiv zu befreien und wäre nicht müde geworden zu betonen, wie stolz ich auf das Team und die Sportler sei …
Unser Servicemann Erik Simon holt mich auf der Treppe am Weg nach unten ein u