Prolog
Juli 1914
Straßburg! Endlich! Die sechzehnjährige Ruth Picard stieg am Münsterplatz aus der Droschke, die sie vom Bahnhof hergebracht hatte. In der einen Hand hielt sie einen Koffer, in der anderen eine Schachtel voller Puits d’amour, kleine Blätterteigtörtchen mit Fruchtkonfitüre-Füllung, die im Deutschen »Liebesbrunnen« genannt wurden. Die modisch gekleidete junge Frau mit dem welligen dunklen Haar näherte sich der Patisserie ihrer Familie in der Krämergasse. Das Geschäft war nach ihren jüdischen Urgroßeltern benannt: Goldschmidt. Kurz bevor sie die Eingangstür erreichte, wurde sie von einem deutschen Soldaten angerempelt, die Schachtel mit den Puits d’amour fiel ihr aus der Hand, drei landeten auf dem Boden, zwei wurden vom Stiefel eines weiteren Soldaten zertreten. Ruth, die die Törtchen gestern zu Hause in Cognac selbst gebacken hatte, fluchte. »Merde!«
Die beiden Soldaten, die bereits achtlos weitergegangen waren, drehten sich erst jetzt um. »He! Hier spricht man deutsch!«, bellte der eine.
»Hier entschuldigt man sich, wenn man eine Dame anrempelt«, entgegnete Ruth trotzig und in perfektem Deutsch, während sie in die Knie ging, um ihre Schachtel mit den restlichen Törtchen aufzuheben.
Der Soldat wollte einen wütenden Schritt auf die junge Frau zugehen, doch der andere hielt ihn zurück. Mit einem etwas lüstern wirkenden Grinsen sagte er: »Na also, das Mamsellchen kann sie doch, die Sprache unseres Kaisers.«
Ruth würdigte die Soldaten keines Blicks mehr, sondern erhob sich und wandte sich erneut dem Eingang der Patisserie zu. Brummelnd trollten sich die beiden Männer in Richtung Münsterplatz.
Kopfschüttelnd griff Ruth nach ihrem Koffer. Ihr Vater, der seine temperamentvolle Tochter bestens kannte, hatte sie ermahnt, Konfrontationen mit den Deutschen in Straßburg aus dem Weg zu gehen. Sie seien derzeit sehr grob und gingen äußerst respektlos mit der Bevölkerung um. Doch Ruth hasste Unhöflichkeit und hatte deshalb ihren Mund nicht halten können, als der Soldat sie angerempelt hatte. Ihr Lebensmotto war: Das Universum schöner und gerechter machen! Den beiden Soldaten die Meinung zu sagen, das war gerecht, und dass sie nun außer Sichtweite waren, machte Straßburg schöner. Sie atmete tief durch und öffnete dann die Ladentür. Als das vertraute Bimmeln des Glöckchens darüber ertönte und sie Großvater Jacques hinter dem Verkaufstresen erblickte, traten ihr Freudentränen in die strahlend grünen Augen. Da ihre Mutter kurz nach Ruths Geburt gestorben war, hatte sie bisher allein mit dem Vater und der strengen Gouvernante Paulette Girod in Cognac gelebt. Die wenigen Ferien bei der Großfamilie in Straßburg waren stets ein Lichtblick gewesen, die schönsten Kindheitsmomente hatte sie dort erlebt. Ruths Cousine Joséphine und deren Adoptivbruder Marcel waren ihre besten Freunde, mit beiden stand sie in regelmäßigem Briefkontakt. Und nun hatte Ruths Vater René entschieden, dass sie wegen der derzeitigen Kriegsgefahr und seiner Verpflichtung bei der französischen Armee hierher zur Familie ziehen sollte. Zumindest, bis sich die politischen Wogen wieder geglättet hatten.
»Ruth, meine kleine Ruth«, rief ihr Großvater, der inzwischen sechsundsechzig Jahre alt war, begeistert. Er kam hinter dem Tresen hervor und drückte seine grazile Enkelin mit seinem verbliebenen rechten Arm an sich; den linken hatte er 1870 beim Bombardement Straßburgs durch die Preußen eingebüßt.
»Dich hierherzuschicken war die beste Idee, die dein Vater je hatte«, freute sich Jacques Picard.
»Platz genug hast du ja«, lachte Ruth.
Der alte Patissier hatte das viergeschossige Haus in den letzten Jahren allein mit der Familienköchin und deren Neffen bewohnt. Seine betagte Mutter Bernadette lebte bei ihrem zweiten Mann und dessen Familie außerhalb Straßburgs auf dem Lande, seine Schwester Marie besaß inzwischen ein Atelier in Paris. Zwar wohnte die Familie von Jacques’ erstgeborenem Sohn Lucien gleich um die Ecke am Münsterplatz über ihrer eigenen Feinbäckerei, aber eine Enkelin im Haus zu haben machte den bisweilen recht brummigen alten Herrn sichtlich glücklich.
»Was ist das eigentlich für eine geheimnisvolle Mission, auf die mein Sohn René da geht?«, fragte er sie nun. »Ich hätte nie gedacht, dass dein Vater sich mal freiwillig zum Militär meldet. Bin immer davon ausgegangen, der kandidiert irgendwann als Bürgermeister von Cognac.«
Ruth zuckte mit den Schultern. »So genau weiß ich auch nicht, was er in Paris für Aufgaben bekommt. Es hat etwas mit der Versorgung der Truppen im Kriegsfall zu tun.«
»Ich hätte ihn gern noch mal gesehen«, sagte Jacques bedauernd. »Geht es ihm gut?«
Sie zuckte die Achseln. »Papa hat sich nie beschwert. Auch nicht darüber, dass er der Liebe wegen so weit wegziehen musste. Und auch nicht, dass er deshalb von der Patisserie in die Verwaltung gewechselt hat. Aber ich glaube, er vermisst Straßburg und das Backen öfter, als er zugibt – und dich auch.«
Jacques lächelte merklich gerührt. »Du tust ihm gut«, sagte er.
Sie nickte. Ihre Tante Ida hatte ihr erzählt, dass René vor ihrer Geburt ziemlich herrisch gewesen war. Das konnte sie sich nur schwer vorstellen: Sie hätte sich keinen aufmerksameren und liebevolleren Vater wünschen können.
Ruth war Renés einziger leiblicher Nachkomme, Marcel aus seiner ersten Ehe hatte sich als Kuckuckskind entpuppt und war dann von Renés älterem Bruder, Ruths Onkel Lucien, adoptiert worden. Ruth war es immer egal gewesen, dass Marcel kein leiblicher Cousin war, er hatte für alle von jeher trotzdem zur Familie gehört. Und seit einiger Zeit empfand sie sogar mehr für ihn. Bei ihrem Besuch zum fünfundsechzigsten Geburtstag des Großvaters im vorigen J