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Der Duft, der aus der Backstube drang, strömte verführerisch durch das ganze Haus, schlich sich in Ida Tritschlers Nase und weckte die Bäckerstochter aus ihren Träumen. Es musste also nach fünf Uhr in der Früh sein, kombinierte sie, denn um diese Uhrzeit ging das rege Treiben in der Backstube los. Vor ihrem inneren Auge sah sie die Köstlichkeiten vor sich, die unten bald aus dem Ofen geholt würden. An jedem anderen Tag hätte sich die schlanke Achtzehnjährige noch einmal in ihrem wohlig weichen Daunenbett umgedreht und weitergeschlafen.
»Meine Tochter soll nie so früh aufstehen müssen wie ich in ihrem Alter«, pflegte ihr Vater Franz immer zu sagen und hatte dieses Versprechen auch stets gehalten. Er selbst stand mittlerweile seinerseits nur noch dann vor dem Hahnenschrei auf, wenn er den jungen Bäckersburschen wieder einmal zeigen wollte, dass er für sie da war – und, obgleich inzwischen zum Großbäcker aufgestiegen, noch immer einer von ihnen. Mittlerweile besaß er hier in Stuttgart drei Backwarengeschäfte und brütete am Tage in seinem Bureau über den Geschäftsbüchern und der Umsetzung neuer Ideen. Im Fall von Franz Tritschler hatte Handwerk wirklich goldenen Boden, seiner Familie fehlte es an nichts, der Wohlstand schien gesichert.
Ida hätte also nicht aufstehen müssen, aber heute wollte sie es. Denn dieser Montag, der 10. April 1893, würde der vorerst letzte Tag in ihrem geliebten Elternhaus in der Stuttgarter Innenstadt sein. Ihr Vater hatte beschlossen, dass sie ins Elsass ziehen würden, als er gehört hatte, dass in der Nähe des Straßburger Münsters ein Geschäft mit einer dreistöckigen Wohnung darüber frei geworden war. Dort wollte er nun einen Neuanfang wagen. Und Ida, ihr zwei Jahre älterer Bruder Oskar und ihre Mutter sollten mit dem französischen Koch und der Haushälterin schon einmal vorfahren und die Wohnung beziehen, während der Vater noch die letzten Angelegenheiten in Stuttgart erledigte. Das neue Geschäft in Straßburg würde dann am 1. Mai eröffnen.
Nach der Morgentoilette begab sich Ida frisch gewaschen und nach ihrer geliebten Douglas-Himmelsseife duftend hinunter in die Küche. Dort war der Koch der Familie, Monsieur Leroc, bereits mit dem Aufbrühen von Kaffee beschäftigt. »Bonjour, Mademoiselle Ida«, begrüßte er sie fröhlich. Er wirkte noch immer ein wenig jugendlich, obwohl sein blondes Haar an den Schläfen bereits ergraute und Ida wusste, dass er nächstes Jahr sein fünftes Lebensjahrzehnt abschließen würde. Sie hatte sich von Kindesbeinen an nur auf Französisch mit ihm unterhalten, ihrem Vater war nämlich daran gelegen, dass sie und ihr Bruder zweisprachig aufwuchsen. Deshalb hatte er neben dem Koch auch den Hausdiener und die Haushälterin aus dem Reichsland Elsaß-Lothringen angeheuert, die nicht nur das dort verbreitete Alemannische, sondern eben auch die einstige Feindessprache beherrschten. Warum ihr Vater als gebürtiger Stuttgarter das Französische derart liebte, hatte Ida nie so ganz verstanden, denn vier Jahre vor ihrer Geburt hatte er im Krieg gegen die Franzosen kämpfen müssen – und dabei den kleinen Finger der linken Hand eingebüßt. Sie wusste nicht genau, wie es dazu gekommen war, Franz Tritschler sprach nicht gern über jene Zeit. Neugierige Kinderfragen zum Verlust des Fingers hatte er stets nur vage mit der Aussage abgetan, andere hätten damals Schlimmeres verloren, er sei »insgesamt gut davongekommen«.
Ida wusste, dass ihr Vater bereits kurz nach Ende des Deutsch-Französischen Krieges 1871 versucht hatte, als Bäcker im nunmehr deutschen Straßburg Fuß zu fassen. Doch ihre Mutter Elise hatte dem Töchterchen einst anvertraut, dass der Hass gegen die Deutschen seinerzeit noch zu groß gewesen war und viele Elsässer den Wechsel der Nationalität ihrer Stadt nur schwer akzeptieren konnten. Der Vater habe das Geschäft bald aufgeben müssen und stattdessen in seiner Heimatstadt Stuttgart einen Neuanfang versucht – mit wesentlich größerem Erfolg.
»Zum Glück«, hatte die Mutter lächelnd gesagt, »sonst hätten wir uns ja nie kennengelernt. Und dann gäbe es dich und deinen Bruder nicht.«
Eigentlich war es also erstaunlich, dass ihr Vater, der in vier Tagen immerhin schon dreiundvierzig werden würde, dem Elsass trotz seiner drei gut laufenden Bäckereien hier in der Schwabenmetropole noch einmal eine Chance geben wollte. Aber gerade weil er nach dem Krieg in Straßburg gescheitert war, wollte er es nun wohl noch einmal wissen. »Wenn ich es jetzt nicht tue, bin ich zu alt für ein Abenteuer«, hatte er gesagt.
Und auch seine Familie hatte Lust auf dieses spannende Wagnis verspürt. Ida und deren Mutter würden wie in Stuttgart beim Verkauf helfen; ihr Bruder Oskar hingegen wollte an der Kaiser-Wilhelm-Universität in Straßburg ein Studium der Rechtswissenschaften beginnen.
»Einen Schluck Kaffee?«, bot der Koch an, doch Ida schüttelte ihre braunen Locken und fragte ihn, ob ihr Vater schon munter sei.
»Ja, er ist unten bei den Bäckern«, informierte Gaston Leroc sie.
Die Backstube befand sich im Erdgeschoss hinter den Verkaufsräumen. Hier war der Geruch der frischen Brezeln natürlich noch stärker. Ida wurde von ihrem Vater mit einem Lächeln begrüßt. »Na, Kleines, schon aufgeregt?«, erkundigte er sich.
Sie nickte. »Gestern Abend habe ich endlich den Koffer zubekommen. Oskar musste sich dafür draufsetzen.« Liebevoll strich sie ihrem Vater etwas Mehl aus dessen welligem, blondem Haar.
»Wir werden Sie sehr vermissen, Fräulein Tritschler«, sagte Kurtle, der sommersprossige Bäckergeselle, während er ei