: Georges Simenon
: Der Outlaw Die großen Romane
: Atlantik Verlag
: 9783455011449
: Die großen Romane
: 1
: CHF 8.90
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 340
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
ZEIT FÜR MICH - ZEIT FÜR SIMENON Stan hat viele Ideen, aber einfach kein Glück. Nach einem kleinen, aber folgenreichen Spaß in seiner Heimat Litauen muss er diese verlassen und geht nach Amerika. Nachdem er auch hier wieder scheitert und sich in Lebensgefahr bringt, strandet er mit seiner Freundin in Paris. Während Nouchi hier Fuß fasst, bleibt Stan rastlos. Als Illegaler hat er wenige Aussichten auf einen guten Job, und erneut gerät er in das Visier einer gefährlichen Bande. Stan wird zunehmend zum Gesetzlosen, einem Outlaw. Bandnummer: 41

Georges Simenon, geboren am 13. Februar 1903 im belgischen Lüttich, gestorben am 4. September 1989 in Lausanne, gilt als der »meistgelesene, meistübersetzte, meistverfilmte, in einem Wort: der erfolgreichste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts« (Die Zeit). Seine erstaunliche literarische Produktivität (75 Maigret-Romane, 117 weitere Romane und mehr als 150 Erzählungen), viele Ortswechsel und unzählige Frauen bestimmten sein Leben. Rastlos bereiste er die Welt, immer auf der Suche nach dem, »was bei allen Menschen gleich ist«. Das macht seine Bücher bis heute so zeitlos.

Erster Teil


1


Die Vorstellung im Kino Saint-Paul ging gerade zu Ende, als sie die Rue Saint-Antoine erreichten. Von der Bastille bis zum Hôtel de Ville lag die Straße wie ausgestorben da – eine einzige weite Schneise, die sogar noch weiter, bis zur Place de la Concorde, reichte –, winzig wirkten die wenigen vorbeieilenden Passanten, die sich bisweilen sogar diagonal über die Fahrbahn trauten.

Die beiden kamen praktisch vom anderen Ende der Stadt, aus dem Grenelle-Viertel, aus einer Straße, die noch nicht fertiggebaut und daher im Stadtplan von Paris nicht verzeichnet war. Wie lange gingen sie nun schon so im Gleichschritt, wobei Nouchi ihren Begleiter untergehakt hatte?

Zuerst hatten sie jedoch ins Grenelle-Viertel gehen müssen. Da hatten die Straßen noch etwas belebter gewirkt, denn obwohl es wegen der Kälte kaum Passanten gab, ahnte man doch, dass hinter den beschlagenen Fenstern der Cafés Menschen saßen.

»Was ist, wenn Lartik nicht da ist?«, hatte Nouchi zu fragen gewagt, als sie die Straße, die noch länger und noch eintöniger war als die Rue Saint-Antoine, bereits zur Hälfte passiert hatten.

Sie hätte besser nicht gefragt. Stan hatte sie streng, geradezu wütend angeblickt und war dann auf eine Bank losgestürzt, um das Holz zu berühren.

»Da ist kein Licht, Stan!«

»Er hat sich eben schon hingelegt!«

Lartik, der Bildhauer gewesen war, bevor er bei Renault arbeitete, wohnte in einer Art Pavillon, einem Maleratelier oder eher einer Baracke im Hinterhof eines halbfertigen Mietshauses. Der Zugang führte über eine Außentreppe ohne Geländer. Und an diesem Abend sah man so gut wie nichts.

»Stéphan!«, rief Stan, während er versuchte, durch die Fensterscheiben zu spähen. »Stéphan! … Ich bin’s, Stan … Du musst mir unbedingt aufmachen … Glaub mir, diesmal ist’s wirklich ernst … Nouchi ist auch hier … Wir sind die ganze Strecke von der Rue Saint-Antoine hierher zu Fuß gekommen …«

Nouchi flüsterte:

»Da hat sich was bewegt!«

Beiden schien es, als hätten sie ein Geräusch gehört. Sie sahen den rötlichen Lichtschein, der aus einem brennenden Ofen kam, und sie meinten auf dem Bett eine Silhouette, einen Schatten zu erkennen.

»Stéphan!«

Und Nouchi, fast unhörbar:

»Vielleicht ist er nicht allein.«

Hätte Lartik nicht wenigstens einen Abend mal auf ein Mädchen verzichten können? War er durch seine Arbeit bei Renault nicht schon erschöpft genug?

Nouchi hatte recht. Stan war ganz sicher: Sein Freund war zu Hause, auf dem Sofa, oder besser, auf der Matratze, die als Sofa diente, und zwar mit einer Frau! Die beiden hielten wohl gerade den Atem an und hatten dabei nicht einmal ihr Liebesspiel unterbrochen.

»Hör zu, Stéphan … Das ist das letzte Mal, dass ich komme … Du musst aufmachen … Unbedingt, verstehst du?«

Nouchi begann die Treppe hinunterzusteigen. Nach ein paar Minuten sagte sie von unten:

»Komm!«

Hier nun, vor dem Kino Saint-Paul, war es, als ob man eine Tube Zahnpasta ausdrückte – eine dicke Masse quoll heraus, die sich erst allmählich ausdünnte: Männer, Frauen, ganze Familien, deren laute Stimm