KAPITEL 2
Der Hundebesitzer, der eine filterlose Zigarette in der Hand hält und einen lila Kapuzenpullover trägt, murmelt ein »Dertutnix« und zieht weiter. An Einschlafen ist jetzt nicht mehr zu denken. Ich brauche eine andere Schlafstätte, die nicht so zentral gelegen und wo nicht jederzeit mit Publikumsverkehr zu rechnen ist.
Ich erhebe mich, während es zu dämmern beginnt. Wie eine Figur aus der Augsburger Puppenkiste bewege ich mich langsam und ungelenk, um meinem Körper ein paar koordinierte Bewegungen abzuringen. Irgendetwas registriere ich positiv, ohne in diesem Augenblick klar zu wissen, was. Auf meinem Handy drücke ich die Selfie-funktion, um mich anzuschauen. Graue Bartstoppeln sprießen aus meinen leicht eingefallenen Wangen und am Kinn hervor. Unter den Augen zeichnen sich ein Netz von Fältchen und dunkle Furchen ab. Bin ich schon durch diese eine Nacht gealtert? Manchmal schauen wir in den Spiegel und haben das Gefühl, schlagartig um Jahre gealtert zu sein. Heute ist für mich so ein Tag. Ich überlege, ob ich zum Hauptbahnhof gehe, um zu duschen. Am Vortag habe ich gesehen, dass das dort sieben Euro kostet. Viel zu teuer angesichts meiner Finanzlage. Ich brauche eine preiswertere Variante. Auch muss ich mich an den Gedanken gewöhnen, nicht mehr wie die letzten Jahrzehnte fast täglich zu duschen. Als ich mein Handy öffne, um eine Duschgelegenheit zu googeln, sehe ich zu meinem Schrecken den Ladezustand, der auf zehn Prozent abgerutscht ist.
Im Familienchat ist eine Nachricht angezeigt. Sie ist am Abend zuvor eingegangen.
Frohe Ostern, Papa. Wo bist du? Was machst du?
LG Leon und Lisa
Als Erstes muss ich einen Weg finden, das Handy aufzuladen. Ich gehe zum Burger King in der Sonnenstraße, der aber noch geschlossen ist. Ob es dort ungeschützte Steckdosen zum Aufladen gibt, ist ohnehin ungewiss. Bei Google finde ich den Hinweis auf Sankt Bonifaz. In dem Benediktinerkloster nahe dem Königsplatz ist es Obdachlosen möglich, sich zu duschen. Auch etwas zum Essen steht dort bereit. Ich mache mich auf den Weg. Duschen, das Handy aufladen, was essen, dann werde ich den Kindern etwas länger schreiben.
Wenn wir ziellos vor uns hin leben, drohen wir uns zu verlieren, ins Beliebige zu verfallen. Wie eine im Meer treibende Plastikflasche werden wir hin und her geworfen. Darum ist es wichtig, dem Tag eine Struktur zu geben. Erst tue ich dies, dann das, dann jenes.
Als ich an Sankt Bonifaz ankomme, ist die Tür verschlossen: Ostermontag, erst am nächsten Morgen ist Duschen möglich. Aus der Kirche strömen einige Gottesdienstbesucher. Ein älterer Mann mit hellbrauner Hornbrille sieht mich zusammengekauert seitlich auf den Kirchenstufen sitzen und schiebt mir mit reglosem Gesicht einen Zehneuroschein zu. Ich nicke, murmele ein »Danke« und schäme mich abgrundtief. Ich frage mich, ob ich nach einer Nacht im Freien auf Menschen mit einem geregelten Leben schon wie ein Bettler wirke.
Der Akku meines Handys ist inzwischen leer. Ich werde den Kindern erst morgen schreiben können, falls dann in Sankt Bonifaz das Aufladen möglich ist.
Mit Koffer