: Felix Leibrock
: Nur im Dunkeln leuchten dir Sterne Eine Erzählung für Suchende
: Europa Verlag GmbH& Co. KG
: 9783958902831
: 1
: CHF 11.70
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 232
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Stal er, du bist raus.' Mit dieser WhatsApp-Nachricht beginnt für Stalter der unaufhaltsame Abstieg. Bis vor Kurzem war er noch der erfolgreiche Geschäftsmann mit Frau und Kindern und der Option auf ein schickes Haus in München-Solln. Jetzt ist die Ehe am Ende, seine Geschäftspartner haben ihn ausgebootet, die letzten Geldreserven sind aufgebraucht. Mit Hartz IV ist die Miete in München unbezahlbar, Stalter landet auf der Straße, wo ihn die harte Realität der Obdachlosigkeit mit voller Wucht trifft und er sich unter den Ausgestoßenen der Gesellschaft wiederfindet. Beim 'Sternenexpress', einer mobilen Obdachlosenhilfe, trifft Stalter auf die Märchenerzähler Vasile, Samir und einige andere Obdachlose. In ihren stimmungsvollen Geschichten aus ihrer Heimat geht es um Trauer und Verlust, um Liebe und Hoffnung, um die Suche nach dem Glück. Sie berühren Stalter tief und eröffnen ihm einen neuen Blick auf sein altes, von der Jagd nach Geld und Erfolg getriebenes Leben. Er erkennt die heilende Kraft der Märchen, erkennt, wie viel Lebensweisheit in ihnen steckt. Er beginnt, sie aufzuschreiben und an Passanten zu verteilen. So wird Amelie, eine Mitarbeiterin beim 'Sternenexpress', auf ihn aufmerksam. Auch sie glaubt an den tiefen Sinn der Märchen und macht Stalter ein Geschäftsangebot - Stalters Chance, sich ein neues, erfülltes Leben aufzubauen. Die einfühlsame Entwicklungsgeschichte eines Mannes, der ganz tief fällt und sich wieder nach oben kämpft, verwoben mit alten Märchen aus verschiedenen Kulturkreisen.

Felix Leibrock, Jahrgang 1960, hat Germanistik, Geschichte und Evangelische Theologie studiert. Er leitet das Evangelische Bildungswerk in München, ist Seelsorger bei der Bayerischen Bereitschaftspolizei und spricht das Format 'Nachgedacht' bei Antenne Bayern. Felix Leibrock hat selbst zweieinhalb Jahre als Wohnungsloser in München gelebt. Heute fährt er für eine Münchner Obdachloseninitiative regelmäßig Suppe, Brot, Tee und Kleidung aus. Auch hat er das Café ohne Klischee für Obdachlose und Bedürftige in der Münchner Innenstadt gegründet. Zudem ist er als Krimiautor erfolgreich und veranstaltet regelmäßig Literaturabende. Felix Leibrock lebt in München und Weimar.

KAPITEL 2


Der Hundebesitzer, der eine filterlose Zigarette in der Hand hält und einen lila Kapuzenpullover trägt, murmelt ein »Dertutnix« und zieht weiter. An Einschlafen ist jetzt nicht mehr zu denken. Ich brauche eine andere Schlafstätte, die nicht so zentral gelegen und wo nicht jederzeit mit Publikumsverkehr zu rechnen ist.

Ich erhebe mich, während es zu dämmern beginnt. Wie eine Figur aus der Augsburger Puppenkiste bewege ich mich langsam und ungelenk, um meinem Körper ein paar koordinierte Bewegungen abzuringen. Irgendetwas registriere ich positiv, ohne in diesem Augenblick klar zu wissen, was. Auf meinem Handy drücke ich die Selfie-funktion, um mich anzuschauen. Graue Bartstoppeln sprießen aus meinen leicht eingefallenen Wangen und am Kinn hervor. Unter den Augen zeichnen sich ein Netz von Fältchen und dunkle Furchen ab. Bin ich schon durch diese eine Nacht gealtert? Manchmal schauen wir in den Spiegel und haben das Gefühl, schlagartig um Jahre gealtert zu sein. Heute ist für mich so ein Tag. Ich überlege, ob ich zum Hauptbahnhof gehe, um zu duschen. Am Vortag habe ich gesehen, dass das dort sieben Euro kostet. Viel zu teuer angesichts meiner Finanzlage. Ich brauche eine preiswertere Variante. Auch muss ich mich an den Gedanken gewöhnen, nicht mehr wie die letzten Jahrzehnte fast täglich zu duschen. Als ich mein Handy öffne, um eine Duschgelegenheit zu googeln, sehe ich zu meinem Schrecken den Ladezustand, der auf zehn Prozent abgerutscht ist.

Im Familienchat ist eine Nachricht angezeigt. Sie ist am Abend zuvor eingegangen.

Frohe Ostern, Papa. Wo bist du? Was machst du?

LG Leon und Lisa

Als Erstes muss ich einen Weg finden, das Handy aufzuladen. Ich gehe zum Burger King in der Sonnenstraße, der aber noch geschlossen ist. Ob es dort ungeschützte Steckdosen zum Aufladen gibt, ist ohnehin ungewiss. Bei Google finde ich den Hinweis auf Sankt Bonifaz. In dem Benediktinerkloster nahe dem Königsplatz ist es Obdachlosen möglich, sich zu duschen. Auch etwas zum Essen steht dort bereit. Ich mache mich auf den Weg. Duschen, das Handy aufladen, was essen, dann werde ich den Kindern etwas länger schreiben.

Wenn wir ziellos vor uns hin leben, drohen wir uns zu verlieren, ins Beliebige zu verfallen. Wie eine im Meer treibende Plastikflasche werden wir hin und her geworfen. Darum ist es wichtig, dem Tag eine Struktur zu geben. Erst tue ich dies, dann das, dann jenes.

Als ich an Sankt Bonifaz ankomme, ist die Tür verschlossen: Ostermontag, erst am nächsten Morgen ist Duschen möglich. Aus der Kirche strömen einige Gottesdienstbesucher. Ein älterer Mann mit hellbrauner Hornbrille sieht mich zusammengekauert seitlich auf den Kirchenstufen sitzen und schiebt mir mit reglosem Gesicht einen Zehneuroschein zu. Ich nicke, murmele ein »Danke« und schäme mich abgrundtief. Ich frage mich, ob ich nach einer Nacht im Freien auf Menschen mit einem geregelten Leben schon wie ein Bettler wirke.

Der Akku meines Handys ist inzwischen leer. Ich werde den Kindern erst morgen schreiben können, falls dann in Sankt Bonifaz das Aufladen möglich ist.

Mit Koffer