1. KAPITEL
Es würde nicht leicht sein, das hatte er gewusst.
Auch, dass manche Fälle ganz besonders schwer sein würden.
Doch Dr. Thomas Wolfe hatte nach der dringend benötigten Pause ebenfalls gewusst, dass er bereit war, sich wieder seiner ersten Liebe zu widmen: der Kinderkardiologie.
Gebrochene kleine Herzen zu heilen …
Und natürlich auch die größeren. Das Paddington Children’s Hospital behandelte Kinder und Jugendliche jeden Alters, vom Neugeborenen bis zum Achtzehnjährigen. Nachdem er jahrelang nur mit Erwachsenen zu tun gehabt hatte, war Thomas im Umgang mit Heranwachsenden sicherer geworden, doch im Laufe der letzten Monate hatte er seine Faszination für Babys wiederentdeckt. Und für die Kinder, die alt genug waren, um zu begreifen, wie krank sie waren – tapfere Kinder, von denen sich viele Erwachsene eine Scheibe hätten abschneiden können.
Das Schicksal einiger Kinder berührte ihn besonders, was ihm vor Augen führte, wie wichtig es war, dass er seine Arbeit so gut wie möglich machte. Doch man musste vorsichtig sein. Wenn man die Dinge zu nah an sich heranließ, beeinträchtigte es nicht nur das eigene Urteilsvermögen, es bestand auch die Gefahr, dass es einen am Ende zerstörte.
Und das würde Thomas Wolfe nie wieder zulassen.
Er musste eine kurze Pause einlegen und blieb im Hauptkorridor der kardiologischen Station stehen, direkt neben den riesigen bunten Figuren von Pu dem Bären und seinen Freunden, die den Wandabschnitt zwischen den Fenstern der Patientenzimmer dekorierten. Tiger schien mitten im Sprung auf ihn herabzugrinsen, während Thomas so tat, als würde er eine neue Nachricht auf dem Pager lesen.
Dieser Fall hatte sich seit seiner Rückkehr nach Paddington als der schwierigste entpuppt. Ein kleines Mädchen, das es einem fast unmöglich machte, sichere Distanz zu wahren. Die sechsjährige Penelope Craig, von allen nur „Penny“ genannt, berührte nicht einfach nur die Herzen der Menschen in ihrer Nähe. Sie nahm sie regelrecht gefangen, dass es schmerzte.
Er musste sich nicht daran erinnern, wie wichtig es war, Distanz zu wahren, denn diese Fähigkeit hatte er von dem Augenblick an trainiert, als er erneut durch die Tür dieses erstaunlichen alten Krankenhauses getreten war. Sie war ihm bereits so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er sie automatisch anwendete. Er musste nur sicherstellen, dass es in seiner inneren Barriere keine Lücken gab, ansonsten würde Penny sie finden und durchbrechen.
Und das durfte nicht geschehen.
Er nickte, als hätte er auf dem Pager eine wichtige Nachricht gelesen, hob den Kopf und ging zur nächsten Tür. Ohne zu zögern. klopfte er und betrat lächelnd den Raum.
Für den Bruchteil einer Sekunde geriet sein Lächeln ins Wanken, als ihm Pennys Mutter Julia Craig in die Augen sah. In ihrem Blick lag die allgegenwärtige, unausgesprochene Frage:
Ist es heute so weit?
Seine Antwort war ebenso lautlos:
Nein. Heute nicht.
Die Kommunikation zwischen ihnen war so routiniert, dass sie kaum länger als einen Wimpernschlag dauerte. Penny hatte es sicher nicht bemerkt.
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