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Seine Feinde während der Fastenzeit umzubringen, ist garantiert eine Todsünde.
Aber was blieb mir anderes übrig? Ich hatte mir den Zeitpunkt nicht ausgesucht. Vielleicht hatte ich ja Glück und bekam es bei der Befreiung meines Vaters nicht mit irgendwelchen dunklen Mächten zu tun. Und musste auch kein Blut vergießen.
Ha, keine Chance! Schließlich hatte ich ja schon so meine Erfahrungen mit den Mayagöttern.
»Du musst schneller rudern!«, rief ich.
Brooks saß im Bug des Zweierkajaks. Es regnete in Strömen. Wir paddelten durch einen Mangrovensumpf auf einer entlegenen mexikanischen Insel. Auf die hatte Ixtab mich und alle, die mir nahestanden, vor ein paar Monaten verbannt. Ixtab ist die Herrscherin der Unterwelt. Sie versteckte uns hier vor den anderen Mayagöttern, denn die hielten mich für tot. Dieses Schicksal hatte ich angeblich verdient, weil ich der Verbindung eines Gottes mit einer Menschenfrau entstammte.
Eigentlich war es auf Holbox – so hieß die Insel – ganz schön. Nur nicht, wenn man es eilig hatte – so wie wir gerade.
Der Mangrovensumpf glich einem gewundenen, überwucherten Fluss und war voller Krokodile und Schlangen, aber es war nun mal der kürzeste Weg zu der Bucht im Westen der Insel.
Diese Bucht war sozusagen unser »Postfach«. Unser Freund, der Riese Jazz, riskierte sein Leben, indem er uns mit vertraulichem Insiderwissen versorgte, aber er musste uns seine Informationen heimlich und auf die altmodische (also nervtötend langsame) Art zukommen lassen, damit man sie nicht zu ihm zurückverfolgen konnte. Ich weiß schon, was du jetzt denkst. Warum schickte er uns nicht einfach eine Textnachricht? Gute Idee, aber leider hatte Ixtab die Insel mit Schemenmagie getarnt, damit wir nicht entdeckt wurden, und diese Magie legt Smartphones und Wi-Fi und so was lahm. Außerdem stand Jazz unter ständiger Beobachtung. Wenn die Götter Verdacht schöpften, bedeutete das für ihn die endgültige Verbannung nach Xib’alb’a. Er konnte einem echt leidtun.
Den Tag und die Uhrzeit, wann die Nachrichten ankamen, erfuhren wir vom alten Pedro. Man trifft ihn meistens dabei an, wie er eine Hauswand bemalt, oder er sitzt irgendwo im Schatten und trinkt eincerveza. Ist keins von beidem der Fall, organisiert er vermutlich gerade den »Nachrichtendienst«.
»Warum sind wir nicht einfach geflogen?«, übertönte ich das Geprassel des Regens.
»Ich fliege nicht, wenn es regnet. Schon vergessen?«, tönte es vom Bug her.
Aber Kajakfahren ist kein Problem, oder was? Keine Ahnung, warum Brooks so wasserscheu war. Ihre Gestaltwandler-Fähigkeiten verbesserten sich stetig. Inzwischen konnte sie sich nicht nur in einen gewöhnlichen Falken verwandeln, sondern sogar in einen Riesenfalken. Ich selbst dagegen hatte meine Fähigkeiten immer noch nicht im Griff. Dabei mussten wir beide in Topform sein, wenn wir das schaffen wollten, was wir uns wahnwitzigerweise vorgenommen hatten.
»Nur noch zwei Minuten!«, rief ich und meine Stimme überschlug sich vor Panik. »Wir kommen zu spät!«
Eine zweite Chance würden wir nicht kriegen, das hatte uns Pedro auf seine brummige Art unmissverständlich klargemacht.Wenn ihr nicht pünktlich seid, heult mir hinterher nicht die Ohren voll.
Heute ging es um die letzte, alles entscheidende Information, die uns noch fehlte: die genaue Lage des Ortes, an dem mein Vater eingekerkert war. Anscheinend hatten die Götter ihre Sicherheitsvorkehrungen verschärft und verfrachteten ihn alle paar Monate woandershin. Demnächst stand wieder ein Umzug bevor und wir mussten ihn befreien, ehe sich seine Spur verlor.
Echt schade, dass Fuego keine Flügel hatte. So hatte ich meinen Gehstock getauft – das Ding konnte sich in einen tödlichen Speer verwandeln und war so schnell wie ein Feuerstrahl. Damals, in der Alten Welt, hatte die Funkenschlägerin Blitze in den Stock gehämmert, ihn mit uralter Magie aufgeladen und mit dem Blut meines Vaters getränkt. Darum war er jetzt nahezu unzerstörbar und traf immer sein Ziel. Außerdem humpelte ich nicht, wenn ich ihn benutzte (mein eines Bein ist kürzer als das andere)