Noah
Nicht mal das zusätzliche Xanax, das ich auf Anraten meines Arztes nehmen sollte, wenn die Angst zu stark wurde, reichte aus, um den Abend durchzustehen, nachdem Dr. Bernal mir die Ergebnisse meines ersten großen Tests mitgeteilt und versprochen hatte, Nachhilfe für mich zu organisieren.
Allein bei der Vorstellung, dass jemand anders erfuhr, wie sehr ich zu kämpfen hatte, und dass die Nähte, die mein Leben zusammenhielten, zu reißen drohten, hatte ich das Gefühl, als würden Tausende von Ameisen über meine Haut krabbeln.
Die WorteIch brauche Hilfe waren mir noch nie über die Lippen gekommen. Allein sie zu denken, hinterließ einen schlechten Geschmack in meinem Mund – wie der teure Stinkekäse, den meine Eltern immer für ihre Partys im Kühlschrank gehortet hatten.
Aber ich brauchte Hilfe, wenn ich ChemieII erfolgreich abschließen wollte. Noch vor dem Gespräch mit Dr. Bernal war mir klar gewesen, dass ich keine Chance hatte, Redox und Nuklearchemie zu stemmen, solange ich die Sache mit dem chemischen Gleichgewicht und der Thermodynamik nicht kapierte, von den medizinischen Vorkursen im nächsten Jahr ganz zu schweigen.
Meinen Traum, Chirurg zu werden, aufzugeben, kam jedenfalls nicht infrage. Wenn ich zusätzliche Zeit und Arbeit investieren musste, um die Grundlagen der Chemie in den Griff zu kriegen, war ein leicht angekratztes Ego die Sache wert.
Aber solange ich nicht wusste, welchen Nerd mein Lehrer dazu verdonnert hatte, mir zu helfen, war das letzte Wort noch nicht gesprochen. Es musste auf jeden Fall jemand sein, der den Mund halten konnte. Ich nahm doch nicht die ganze zusätzliche Arbeit im Krankenhaus, einschließlich der Vorbereitung auf die Vorstandssitzung, in der es um einen Prozess wegen eines ärztlichen Kunstfehlers ging, auf mich, um dann vor den anderen Vorstandsmitgliedern als »überfordertes Kind« dazustehen. Sie trauten mir mit meinen achtzehn Jahren sowieso schon zu wenig zu.
Als mir die Worte des Berichts, den ich seit einer Stunde las, vor den Augen verschwammen, klappte ich den Hefter zu, kniff mir in den Nasenrücken und atmete ein paarmal tief durch. Da es anscheinend keinen Zweck hatte, weiterhin zu versuchen, mich mit leerem Magen auf den Vorfall zu konzentrieren, ging ich hinunter in die Küche. Von den überbackenen Schweinekoteletts mit Maisgrütze, die mein Bruder vorhin zubereitet hatte, war bestimmt noch etwas übrig. Er hatte eigentlich für seine Freundin May gekocht, aber die Reste des Essens waren zum Verzehr freigegeben, falls sie sich noch im Kühlschrank befanden. Nebenbei gesagt, waren die Ergebnisse von Felix’ Kochkünsten mindestens so gut wie alles, was wir in den Restaurants in Charleston hätten bekommen können – und das wollte etwas heißen.
Dem Kichern und Rascheln, das aus Felix’ Zimmer drang, nach zu schließen, war May nach dem Essen noch geblieben.
Irritiert runzelte ich die Stirn. Ich war echt nicht prüde, und ich mochte May – sie war wirklich okay –, aber trotzdem hatte ich Angst, meine Schwester könnte etwas mitbekommen, für das sie noch zu jung war.
Und da May auch weiterhin ihre Nanny war, machte ich mir Sorgen, was passieren würde, wenn die Beziehung den Bach runterging, solange Sophie noch jemanden brauchte, der sich um sie kümmerte.
Ich schüttelte entschieden den Kopf; zum bestimmt hundertsten Mal, seit Felix und May Anfang des Jahres zusammengekommen waren, sagte ich mir, dass ich darüber keine Kontrolle hatte. Ich konnte nur versuchen, für Sophie da zu sein, und das war momentan so ziemlich das Einzige, was ich meistens ganz gut auf die Reihe kriegte.
Als ich wenig später den Kühlschrank nach den Resten des Essens und möglichen Zutaten für einen Salat durchsuchte, zwang ich mich, mich wieder auf die Details des Rechtsstreits zu konzentrieren. Einem der Assistenzärzte des Krankenhauses war während eines Routineeingriffs ein Kunstfehler unterlaufen, der zur Folge hatte, dass der Patient nicht nur eine, sondern zwei Folgeoperationen über sich ergehen lassen musste, die ansonsten nicht nötig gewesen wären. Ein Fehler, der nicht nur für die Karriere des jungen Arztes, sondern auch für die Finanzen des Krankenhauses einen empfindlichen Rückschlag bedeutete.
Aber es war zumindest niemand gestorben. Dennoch gab es wesentlich mehr Fälle mit solch verheerendem Ausgang, als ich gedacht hätte