: Jessica J. Lee
: Judith Schalansky
: Zwei Bäume machen einen Wald Über Gedächtnis und Migration in Taiwan
: Matthes& Seitz Berlin Verlag
: 9783751802024
: 1
: CHF 18.10
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 215
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Als Jessica J. Lee durch Zufall die gut versteckten Aufzeichnungen ihres verstorbenen Großvaters in die Hände fallen, entschließt sie sich, nicht nur ihrer Familiengeschichte nachzuspüren, sondern auch die Insel zu erkunden, auf der ihre Großeltern den Großteil ihres Lebens verbrachten: Taiwan. Im Bestreben, diese zwischen tektonischen Platten und gegensätzlichen Kulturen gelegene Insel der Extreme zu erforschen, legt Jessica J. Lee frei, inwiefern menschliche Schicksale mit geografischen Kräften zusammenhängen. Angetrieben von dem Wunsch, zu verstehen, welche Erschütterungen ihre Familie erst von China nach Taiwan und schließlich nach Kanada führten, spürt sie anhand dieser Insel mit ihren hohen Bergen, dem offenen Tiefland und den dicht bewachsenen Wäldern der Migrationsgeschichte ihrer Vorfahren mit all ihren Abgründen und Geheimnissen nach. Lee führt uns durchs Gebirge, in denen die Taiwangoldhähnchen zu Hause sind, berichtet von seltenen Vögeln und schwimmt in zedernbedeckten Seen. Doch jenseits ihrer persönlichen Erkundungen wirft Lee auch einen kritischen Blick auf die ehemaligen Kolonialherren Taiwans.

Jessica J. Lee, geboren 1986 in Ontario (Kanada), hat Landschaftsgeschichte und -ästhetik studiert. Sie wurde mit dem RBC Taylor Prize Emerging Author Award ausgezeichnet und gehört zur Gründungsredaktion von The Willowherb Review. Zuletzt erschien ihr Buch Mein Jahr im Wasser. Tagebuch einer Schwimmerin (Piper, 2017). Die kanadisch-britisch-taiwanesis he Autorin lebt in Berlin. Susanne Hornfeck, geboren 1956, promovierte u. a. in Sinologie und Neuerer Deutscher Literatur. Fünf Jahre lebte und lehrte sie in Taipei. Heute arbeitet sie als Autorin und Übersetzerin in Süddeutschland. Für ihre Übersetzungen aus dem Chinesischen und Englischen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem C.H. Beck Übersetzerpreis. Judith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign und lebt als freie Schriftstellerin und Buchgestalterin in Berlin. Sowohl ihr Atlas der abgelegenen Inseln als auch ihr Bildungsroman Der Hals der Giraffe wurden von der Stiftung Buchkunst zum 'Schönsten deutschen Buch' gekürt. Für ihr Verzeichnis einiger Verluste erhielt sie 2018 den Wilhelm-Raabe-Preis. Seit dem Frühjahr 2013 gibt sie die Reihe Naturkunden heraus.

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Ich habe viele Wörter für »Insel« gelernt: Eiland, Atoll, Schäre, Holm. Sie existieren in der Gemeinschaft von Archipelen oder für sich allein, und ich habe sie immer in Verbindung mit dem Wasser gesehen. Das englische Wortisland kommt schließlich vom deutschen »Aue«, das wiederum vom lateinischenaqua (Wasser) stammt. Eine Insel ist ein schwimmendes Wort, ein Archipel, ein pelagischer Ort.

Das chinesische Wort für Insel weiß nichts vom Wasser. Für eine Zivilisation, die sich im Landesinneren entwickelt hat, ist die Unermesslichkeit der Berge die bessere Metapher: (dao, »Insel«, in Taiwanto ausgesprochen) setzt die Beziehung zwischen Erde und Himmel ins Bild. In dem Schriftzeichen steckt die Idee von einem Vogel – (niao) –, der sich auf einem einsamen Berg – (shan) –niederlässt.

Taiwan ist gerade mal 140 Kilometer breit, erklimmt auf dieser Distanz aber eine Höhe von fast viertausend Metern. Der Sprung von Meereshöhe bis hinauf zu den jäh aufragenden Gipfeln ermöglicht eine Fülle unterschiedlicher Habitate, sodass die Vielfalt der Wälder auf der Insel wesentlich größer ist, als ihr vergleichsweise kleiner Fußabdruck erwarten ließe. Die Küsten sind in salz- und sonnengegerbte Mangrovenwälder verpackt, weiter im Süden wächst dichter tropischer Dschungel. Die feuchte Hitze des tropischen Regenwalds geht über in gemäßigten Baumbewuchs; seine Laubhölzer klettern, bis sie weiter oben von Nadelbäumen abgelöst werden. Auf mittlerer Höhe überwiegt borealer Nadelwald mit kathedralengleichen Baumriesen, der sich über der Baumgrenze im Grasland verliert. Dort dehnen sich Schilfgrassteppen bis in den Hochgebirgshimmel hinein. Die Bäume sind gestaffelt wie die Höhenlinien einer Landkarte.

Taiwan, auf der Schnittstelle zweier Vulkanbögen gelegen, wurde in den Konflikt hineingeboren, eine instabile Landmasse, die sich in ständiger Konfrontation befindet. Die Insel liegt auf dem Pazifischen Feuerring – jener von Erdbeben und Vulkanausbrüchen heimgesuchten Zone südöstlich von China, westlich von Japan und nördlich der Philippinen – und markiert die Bruchkanten zweier tektonischer Platten, unter Geologen auch als »destruktive Plattengrenze« bekannt. Der Zusammenstoß der Eurasischen und der Philippinischen Platte presste vor sechs bis neun Millionen Jahren, während des Miozäns, die Insel hervor. Solche Kollisionen sind gewaltig; eine der Platten schiebt sich dabei unter die andere und drückt Landmasse aus dem Meer nach oben. Aber auch die Bruchkanten