Kapitel 1.
Das Erdbeben.
DER Zug aus San Francisco hatte sich sehr verspätet. Es hätte um Mitternacht in Hugson’s Siding ankommen sollen, aber es war bereits fünf Uhr, und die graue Morgendämmerung brach im Osten an, als der kleine Zug langsam in den offenen Schuppen, der als Bahnhofsgebäude diente, rumpelte. Als er zum Stehen kam, rief der Schaffner mit lauter Stimme:
„Hugson’s Siding!“
Sofort erhob sich ein kleines Mädchen von ihrem Sitz und ging zur Tür des Waggons, einen Korbkoffer in einer Hand und einen runden Vogelkäfig, der mit Zeitungen abgedeckt war, in der anderen, während ein Sonnenschirm unter ihrem Arm klemmte. Der Schaffner half ihr aus dem Wagen, und dann setzte der Lokführer seinen Zug wieder in Bewegung, so daß er schnaufte und ächzte und sich langsam das Gleis hinauf bewegte. Er war deswegen so spät, weil es während der ganzen Nacht Zeiten gegeben hatte, in denen die feste Erde unter ihm zitterte und bebte, und der Lokführer befürchtete, daß sich die Schienen jeden Moment verwerfen und seinen Passagieren ein Unglück widerfahren könnte. Also bewegte er die Waggons langsam und vorsichtig.
Das kleine Mädchen blieb stehen, um zuzusehen, bis der Zug um eine Kurve verschwunden war; dann wandte sie sich um, um zu sehen, wo sie war.
Der Schuppen in Hugson’s Siding war bis auf eine alte Holzbank leer und sah nicht sehr einladend aus. Wie sie durch das dämmrige graue Licht spähte, war in der Nähe des Bahnhofs weder ein Haus zu sehen, noch war irgend jemand in Sichtweite; aber nach einer Weile entdeckte das Kind ein Pferd und einen leichten Wagen, die in kurzer Entfernung nahe einer Gruppe von Bäumen standen. Sie ging darauf zu und stellte fest, daß das Pferd an einen Baum gebunden war und bewegungslos dastand. Sein Kopf hing fast bis zum Boden herab. Es war ein großes knochiges Pferd, mit langen Beinen und großen Knien und Hufen. Sie konnte seine Rippen, wo sie sich durch die Haut seines Körpers abzeichneten, leicht zählen, und sein Kopf war lang und schien zu groß für es zu sein, als ob er nicht paßte. Sein Schweif war kurz und struppig, und sein Geschirr war an vielen Stellen zerbrochen und mit Schnüren und Drahtstücken wieder zusammengebunden. Der Wagen schien fast neu zu sein, denn er hatte eine glänzende Oberfläche und ein sauberes Verdeck. Als sie darum herumging, um hineinschauen zu können, sah das Mädchen einen Jungen, der sich auf dem Sitz zusammengerollt hatte und fest schlief.
Sie stellte den Vogelkäfig ab und stupste den Jungen mit ihrem Sonnenschirm an. Jetzt wachte er auf, erhob sich in eine sitzende Position und rieb sich die Augen.
„Hallo!“, sagte er, als er sie sah: „Bist du Dorothy Gale?“
„Ja“, antwortete sie und sah ernst auf sein zerzaustes Haar und in seine blinzelnden grauen Augen. „Bist du gekommen, um mich zur Hugson’s Ranch zu bringen?“
„Natürlich“, antwortete er. „Ist der Zug da?“
„Ich könnte nicht hier sein, wenn er es nicht wäre“, sagte sie.
Er lachte darüber und sein Lachen war fröhlich und offenherzig. Er sprang aus dem Wagen und stellte Dorothys Koffer unter den Sitz und ihren Vogelkäfig auf den Boden davor.
„Kanarienvögel?“, fragte er.
„Oh nein, es ist nur Heureka, mein Kätzchen. Ich dachte, das wäre der beste Weg, sie zu tragen.“
Der Junge nickte.
„Heureka ist ein komischer Name für eine Katze“, bemerkte er.
„Ich habe mein Kätzchen so genannt, weil ich es gefunden habe“, erklärte sie. „Onkel Henry sagt, ‚Heureka‘ bedeutet, ‚ich habe es gefunden‘.“
„Alles klar, hüpf rein.“
Sie kletterte in den Wagen und er folgte ihr. Dann nahm der Junge die Zügel auf, ließ sie herabschnellen und sagte „Hü!“
Das Pferd rührte sich nicht. Dorothy schien es, daß es nur mit einem seiner herabhängenden Ohren zuckte, aber das war alles.
„Hü!“, rief der Junge wieder.
Das Pferd stand still.
„Vielleicht“, sagte Dorothy, „würde es gehen, wenn du es losbinden würdest.“
Der Junge lachte fröhlich und sprang heraus.
„Ich schätze, ich bin noch halb im Schlaf“, sagte er und band das Pferd los. „Aber Jim weiß, was er zu tun hat, nicht wahr, Jim?“, dabei tätschelte er die lange Nase des Tieres.
Dann stieg er wieder in den Wagen und nahm die Zügel auf, und das Pferd wich sofort vom Baum zurück, drehte sich langsam um und begann, die sandige Straße hinunterzutraben, die im schwachen Licht gerade so sichtbar war.
„Dachte schon, dieser Zug würde nie kommen“, bemerkte der Junge. „Ich habe fünf Stunden vor diesem Bahnhof gewartet.“
„Wir hatten viele Erdbeben“, sagte Dorothy. „Hast du nicht gespürt, wie der Boden gebebt hat?“
„Doch, aber wir sind solche Dinge in Kalifornien gewöhnt“, antwortete er. „Sie machen uns nicht viel Angst.“
„Der Schaffner sagte, es wäre das schlimmste Beben gewesen, das er je erlebt hätte.“
„Hat er das? Dann muß es passiert sein, während ich geschlafen habe“, sagte er nachdenklich.
„Wie geht es Onkel Henry?“, fragte sie nach einer Pause, während der das Pferd mit langen, regelmäßigen Schritten weitertrabte.
„Es geht ihm recht gut. Er und Onkel Hugson haben einen schönen Besuch gehabt.“
„Ist Mr. Hugson dein Onkel?“, fragte sie.
„Ja. Onkel Bill Hugson hat die Schwester deines Onkels Henry geheiratet, also müssen wir Cousins zweiten Grades sein“, sagte der Junge vergnügt. „Ich arbeite für Onkel Bill auf seiner Ranch, und er zahlt mir sechs Dollar im Monat und Verpflegung.“
„Ist das nicht ganz schön viel?“, fragte sie.
„Es ist eine ganze Menge für Onkel Hugson, aber nicht für mich. Ich bin ein großartiger Arbeiter. Ich arbeite ebensogut wie ich schlafe“, fügte er lachend hinzu.
„Wie ist dein Name?“, fragte Dorothy und dachte, daß sie die Art des Jungen und den fröhlichen Klang seiner Stimme mochte.
„Nicht sehr hübsch“, antwortete er, als ob er sich ein wenig schämte. „Mein ganzer Name lautet Zebediah; aber die Leute nennen mich nur ‚Zeb‘. Du warst schon einmal in Australien, nicht wahr?”
„Ja, mit Onkel Henry“, antwortete sie. „Wir sind vor einer Woche nach San Francisco gekommen, und Onkel Henry ist gleich auf einen Besuch zur Hugson’s Ranch gefahren, während ich ein paar Tage bei ein paar Freunden in der Stadt geblieben bin.“
„Wie lange wirst du bei uns sein?“, fragte er.
„Nur einen Tag. Morgen müssen Onkel Henry und ich zurück nach Kansas. Wir waren lange weg, weißt du, und möchten daher bald wieder nach Hause kommen.“
Der Junge schnippte das große, knochige Pferd mit seiner Peitsche und sah nachdenklich aus. Dann wollte er etwas zu seiner kleinen Begleiterin sagen, aber bevor er sprechen konnte, begann der Wagen gefährlich von einer Seite zur anderen zu schwanken und die Erde schien sich vor ihnen aufzurichten. In der nächsten Minute gab es ein Getöse und ein scharfes Krachen, und Dorothy sah an ihrer Seite den Boden in einem weiten Spalt aufklaffen und dann wieder zusammenkommen.
„Du meine Güte!“, rief sie, und hielt sich am Eisengeländer des Sitzes fest. „Was war das?“
„Das war ein schrecklich großes Beben“, antwortete Zeb mit einem weißen Gesicht. „Es hat uns fast erwischt, Dorothy.“
Das Pferd hatte abrupt angehalten und stand felsenfest. Zeb schnalzte mit den Zügeln und drängte es zu gehen, aber Jim war stur. Dann knallte der Junge mit der Peitsche und berührte damit die Flanken des Tieres, und nach einem leisen protestierenden Stöhnen ging Jim langsam die Straße entlang.
Während einiger Minuten sprachen weder der Junge noch das Mädchen. Es lag ein Hauch von Gefahr in der Luft, und alle paar Augenblicke wurde die Erde heftig erschüttert. Jims Ohren standen aufrecht auf seinem Kopf und jeder Muskel seines großen Körpers war angespannt, als er nach Hause trabte. Er ging nicht sehr schnell, aber auf seinen Flanken begannen Schaumflecken zu erscheinen und manchmal erzitterte er wie Espenlaub.
Der Himmel war wieder dunkler geworden und der Wind machte seltsame schluchzende Geräusche, als er über das Tal fegte.
Plötzlich ertönte ein zerrendes, reißendes Geräusch, und die Erde teilte sich in einem weiteren großen Riß direkt unter der Stelle, wo das Pferd stand. Mit einem willden angsterfüllten Wiehern fiel das Tier in die Grube und zog den Wagen und seine Insassen mit sich.
Dorothy hielt sich am Wagenverdeck fest und der Junge tat ein gleiches. Der plötzliche freie Fall verwirrte sie, so daß sie...