: Gisella Perl
: Dr. Andrea Rudorff
: Ich war eine Ärztin in Auschwitz
: marixverlag
: 9783843806534
: 1
: CHF 16.90
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: 20. Jahrhundert (bis 1945)
: German
: 192
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Niem nd, der lebend aus einem deutschen Vernichtungslager herauskam, wird je das Bild vergessen, das uns in Auschwitz empfing. Wie große, schwarze Wolken hing der Rauch des Krematoriums über dem Lager.« Gisella Perl Nur drei Jahre nach ihrer Befreiung veröffentlichte die jüdische Frauenärztin Gisella Perl einen Bericht von ihrer Internierung in Auschwitz. Im Mai 1944 wurde sie im Rahmen der Judendeportationen aus Ungarn und den ungarisch besetzten Gebieten mit ihrer Familie nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Als Gynäkologin wurde sie als Lagerärztin im Frauenlager eingesetzt. Die Aufgaben, die auf sie zukamen, widersprachen jeglichen humanen und medizinischen Werten. Die menschenverachtenden Experimente des Lagerarztes Josef Mengele unter anderem an schwangeren Frauen waren Folter und führten zu qualvollem Tod. Perl leistete Widerstand, indem sie die Frauen durch heimliche Abtreibungen vor den sadistischen Übergriffen bewahrte. Präzise beschreibt sie das unentwegte Ringen um Menschenwürde angesichts der perfiden Bestialität des Nazi-Regimes.

Gisella Perl (1907-1988) war eine jüdische Gynäkologin aus der rumänischen Stadt Sighet, die seit 1940 von Ungarn besetzt war. 1944 wurde sie zusammen mit ihrer Familie in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert, wo sie ihre Eltern, ihren Sohn und weitere Angehörige verlor. Als Lagerärztin half sie Hunderten von Frauen und nahm Schwangerschaftsabbrüche vor, um sie vor den grausamen Experimenten des Lagerarztes Josef Mengele zu bewahren. Sie überlebte, emigrierte 1947 in die USA und veröffentlichte ein Jahr später als eine der ersten ein Buch über Auschwitz. Im Mount Sinai Hospital in New York arbeitete sie erfolgreich als Gynäkologin. 1979 ging sie zusammen mit ihrer Tochter nach Israel und lebte dort bis zu ihrem Tod. # [Rudorff] Dr. Andrea Rudorff studierte Neuere und Neueste Geschichte sowie Polonistik in Berlin und promovierte 2012 mit der Arbeit »Frauen in den Außenlagern des Konzentrationslagers Groß-Rosen«. Sie bearbeitete den Band 16 zum Thema Das KZ Auschwitz 1942-1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/45 der Quellenedition »Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933- 1945«, hg. vom Institut für Zeitgeschichte München/Berlin u. a. Seit März 2018 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fritz Bauer Institut. # [Ruschkowski] Klaudia Ruschkowski, Autorin, Kuratorin, Dramaturgin und literarische Übersetzerin, lebt in Volterra, Italien, und in Berlin. Sie konzipiert Kunst- und Literaturprojekte, ist als Hörspielautorin und Herausgeberin tätig. Sie übersetzt aus dem Italienischen und Englischen, zuletzt Etel Adnan, Vincenzo Latronico, Enrico Deaglio. Dr. Andrea Rudorff studierte Neuere und Neueste Geschichte sowie Polonistik in Berlin und promovierte 2012 mit der Arbeit »Frauen in den Außenlagern des Konzentrationslagers Groß-Rosen«. Sie bearbeitete den Band 16 zum Thema Das KZ Auschwitz 1942-1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/45 der Quellenedition »Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945«, herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte München/Berlin u. a. Seit März 2018 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fritz Bauer Institut. Klaudia Ruschkowski, Autorin, Kuratorin, Dramaturgin und literarische Übersetzerin, lebt in Volterra (Italien) und in Berlin. Sie konzipiert Kunst- und Literaturprojekte, ist als Hörspielautorin und Herausgeberin tätig. Sie übersetzt aus dem Italienischen und Englischen, zuletzt Etel Adnan, Vincenzo Latronico, Enrico Deaglio.

Dr. Capesius2


Dezember 1943, Máramarossziget, Siebenbürgen.

Nach Jahren der Angst, des Leids und des unaufhörlichen Kampfes gegen Hoffnungslosigkeit und Resignation waren die Jäger schließlich zu Gejagten geworden. In beständig zunehmendem Ausmaß strömten die nationalsozialistischen »Eroberer« durch unsere Stadt, frierend, hungrig und bestürzt, nach Westen zurückgedrängt durch die unaufhaltsame Wucht der russischen Gegenoffensive. Als wir ihre ausgezehrten Körper erblickten, ihre erfrorenen Hände und in Stofflappen gehüllten Füße, regte sich in unseren Herzen nicht mehr Mitleid als im Herzen des Máramaros-Gebirges mit seinen schneebedeckten Gipfeln, unberührt von den wechselnden Gezeiten der Geschichte. Jeder jüdischen Mutter, Ehefrau und Schwester galt der deutsche Soldat als Symbol allen Übels. Wir hassten ihn mit einem wilden, unauslöschlichen Hass. Er war verantwortlich für das Schicksal unserer Männer, die, eingezogen in Sklavenarbeitsbataillone, in den russischen Winter gehetzt worden waren, um halbverhungert, in Lumpen gekleidet und unbewaffnet Landminen zu entschärfen und den deutschen Armeen den Weg zu ebnen. Wer nicht von explodierenden Minen getötet wurde, erfror, verhungerte oder starb an den brutalen Schlägen, als Lohn für seine Dienstbarkeit. Mit den Armeen auf dem Rückzug kamen jetzt jedoch auch einige der Überlebenden zurück, kaum wiederzuerkennen, mit langen Bärten und durch das Leid gealterten Gesichtern. Doch sie lebten und – zumindest dachten wir das – waren in Sicherheit.

Ich arbeitete damals für drei und ersetzte mehrere Gynäkologen, die mit den Arbeitsbataillonen fortgeschickt worden waren. Ich half jungen Müttern, ihre Kinder auf die Welt zu bringen, linderte ihre Schmerzen, indem ich ihnen lange, optimistische Geschichten von einer friedvollen, sicheren Zukunft erzählte, wo es keine Nazis mehr geben würde, die ihr Leben und das ihrer Kinder bedrohten. Ich war unermüdlich und voller Hoffnung, belebt durch den Wind der Befreiung aus dem Osten und dem Westen.

Eines Nachmittags erschien ein ruhiger, kultivierter Herr in meiner Praxis.

»Ich bin Dr. Capesius«, stellte er sich vor, »medizinischer Handelsvertreter der I.G. Farben. Ich bringe Ihnen hier einige unserer neuesten Präparate, aber das ist – offen gestanden – nur ein Vorwand. Ich interessiere mich nicht für die heutige I. G. Farben. Sie sind ein grundlegender Bestandteil des Nazisystems, und obwohl ich sie immer noch vertrete, ist es mir egal, ob ich ihre Produkte verkaufe oder nicht. Ich bin hier, da ich weiß, dass Sie und Ihr Mann während der Weimarer Republik lange in Berlin gewesen sind. Ich möchte über Deutschland sprechen, wie es zu jener Zeit war und wie es wieder sein wird, wenn der Nationalsozialismus besiegt ist. Ich bitte Sie, mir zu vertrauen … Glauben Sie mir, es gibt viele Menschen in Deutschland, die wie ich nur für den Tag der Befreiung leben …«

Vertrauen konnte ich ihm nicht. Zumindest nicht sofort. Aber indem ich mich zur Raison rief, eine Nation nicht wegen der Verbrechen einiger ihrer Söhne zu verurteilen, auch wenn es sich um die Mehrzahl handeln sollte, lud ich ihn zu uns nach Hause ein, damit er meinen Mann und meinen Sohn kennenlernte.

Der lange Abend, den wir zusammen verbrachten, hebt sich in meiner Erinnerung wie ein farbenfrohes Bild vor einem schwarzen Hintergrund ab. Wir wohnten in einem schönen Haus, das Kornélia Prielle, der großen ungarischen Bühnenkünstlerin französischer Herkunft, gehört hatte. In den Wänden meines grünen Salons, behütet durch die Liebe und Achtung meines Mannes und meines Sohnes, fühlte ich mich glücklich und sicher. Dort sammelte ich jeden Abend die Kraft und den Willen, meine Arbeit, die zunehmend schwieriger wurde, fortzusetzen. Als Dr. Capesius zu Besuch war, sprachen wir über Musik und Literatur, über die künstlerischen und wissenschaftlichen Errungenschafte