Kapitel 1
Halb voll oder halb leer?, fragte sich Nick Preston.
Seit einer Minute stand der Zeiger exakt in der Mitte der Tankuhr, als hätte man ihn mit dem Lineal ausgerichtet. Und mit jedem Meter bewegte er sich weiter; erbarmungslos der Null entgegen, die am Ende der Skala lauerte. Manchmal hatte Nick sogar das Gefühl, dieser verflixte Zeiger würde sich schneller bewegen als der Rest seines Autos. Noch hatte er die Hälfte seines kostbaren Benzins an Bord. Noch konnte er sich einreden, dass der Tank mehr halbvoll als halbleer war. Aber das würde nicht ewig so bleiben. Vor allem nicht, wenn sich Nick weiterhin diese einsame Landstraße hinauf in die Rocky Mountains kämpfte. Von nun an musste er irgendwie Sprit sparen; musste hoffen und bangen, dass der Zeiger niemals diese böse, rote Null erreichte. Jedenfalls nicht, bevor Nick in Jackson war; der nächsten Stadt auf seiner Route. Davon trennten ihn noch rund fünfundsechzig Meilen, wenn er dem Navigationsgerät glauben durfte. Eigentlich ein Klacks für ihn und seinen Toyota!
Beinormalen Straßenverhältnissen.
Doch die Straßenverhältnisse waren allesandere als normal. Das musste Nick stets aufs Neue erkennen, sobald er durch die Frontscheibe nach draußen sah. Denn er steckte mitten in einer Eiswüste ...
Die Schneemassen hatten die Landstraße, die Bäume und Berge meterhoch unter sich begraben, sodass Nick nicht mehr zweifelsfrei sagen konnte, wo das eine aufhörte und das andere begann. Inzwischen zweifelte er sogar daran, ob sich unter dem lupenreinen Weiß überhaupt noch etwas befand - oder ob Gott bei der Schöpfung nicht einfach vergessen hatte, diesen Teil der Welt mit Leben zu füllen. Den einzigen Farbtupfer, den es in dieser Einöde gab, waren die Scheinwerfer. Sie streckten zwei blassgelbe Fühler in die Dunkelheit aus und suchten genauso verzweifelt nach dem Weg, wie es ihr Herrchen hinter dem Steuer tat.
Aber Nick durfte sich nicht darüber beklagen.
Immerhin hatte er sich selbst in diese Misere gebracht.
Er war heute Morgen gegen sieben Uhr von Cheyenne losgefahren, um rechtzeitig zum Heiligabend in Rexburg einzutreffen, einer Gemeinde in Idaho. Für die fünfhundert Meilen lange Strecke hatte Nick neun Stunden Fahrzeit eingeplant, plus der einen oder anderen Pinkelpause. Seiner Berechnung zufolge hätte er spätestens um achtzehn Uhr bei seiner Freundin Jessica im Waisenhaus eintreffen müssen. Pünktlich zur Bescherung und zum Anschnitt des Weihnachtsschinkens. Und das wollte Nick auf keinen Fall verpassen! Denn dieser Schinken war fast schon legendär. Nick hatte keine Ahnung, wie Jessicas Rezept lautete, aber der Schinken schmeckte so knusprig und würzig, als würde man direkt in den Himmel beißen.
Nick lief beim bloßen Gedanken daran das Wasser im Mund zusammen, während er zu der Uhr im Armaturenbrett schielte (die sich dummerweise genau neben der Tankanzeige befand). Er seufzte. Es war jetzt kurz vor sechs am Abend. Nick würde definitiv zu spät zur Bescherung kommen - und das war insofern eine Katastrophe, weil er den Weihnachtsmann für die vierzig Kinder spielen sollte und einen Großteil ihrer Geschenke auf dem Rücksitz hatte. Und Nick seufzte gleich noch mal, als ihm klar wurde, dass er wohl auch den Anschnitt des Schinkens verpassen würde. Vielleicht kam er noch rechtzeitig zu