: Holger Sonnabend
: Manfred Clauss
: Tiberius Kaiser ohne Volk
: Philipp von Zabern in der Verlag Herder GmbH
: 9783805352680
: 1
: CHF 21.30
:
: Biographien, Autobiographien
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein Politiker braucht ein dickes Fell und muss einen Shitstorm aushalten können. Wer dem Unmut der Bürger nicht durch geschickte Selbstvermarktung begegnen kann, dem bleibt nur, seinen Hut zu nehmen. Was aber, wenn ein Rücktritt ausgeschlossen ist - wie bei einem Kaiser des römischen Weltreichs? Tiberius (14-37 n. Chr.) hatte nicht dieses »dicke Fell«. Ein Rückzug ins Privatleben war für ihn nicht vorgesehen, und so entzog er sich nicht seinen Pflichten, wohl aber der Öffentlichkeit, flüchtete sich nach Capri. Aber war der Augustus-Nachfolger tatsächlich ein schlechter Regent? Was ist dran an den Exzessen, über die römische Geschichtsschreiber berichten? Holger Sonnabend zieht in dieser Biografie Bilanz. Er ergründet die politischen Leistungen des zweiten römischen Kaisers und verfolgt seinen Lebensweg. Es entsteht das Bild eines klugen und weitsichtigen, zugleich aber komplizierten und unglücklichen Mannes, der wegen seiner mangelnden kommunikativen Fähigkeiten das Volk verlor.

Holger Sonnabend, geb. 1956, ist Professor für Alte Geschichte am Historischen Institut der Universität Stuttgart. Der Althistoriker und Theologe Manfred Clauss war bis zu seiner Emeritierung Professor für Alte Geschichte an der Johann-Wolfgang-Goethe-Univer ität Frankfurt. Bei der WBG ist er Mitherausgeber der Reihe ?Historische Biografien?. In jüngerer Zeit erschien von ihm u.a. ?Alexandria. Biographie einer Weltstadt? (2003) und ?Mithras. Kult und Mysterium? (2012).

1. Konstrukt oder Realität?


Einige Vorbemerkungen zu den Quellen


Die Quellenlage zu Tiberius ist einerseits günstig, andererseits problematisch. Es gibt vier ausführliche literarische Hauptquellen. Keine von ihnen zeichnet sich durch Objektivität aus. Die eine stammt von einem Anhänger des Tiberius, die drei übrigen Verfasser standen ihm skeptisch, kritisch und negativ gegenüber. Der Anhänger war Zeitgenosse, die anderen schrieben später in der Retrospektive, wobei sie sich auch zeitgenössischer Quellen bedienten.

Velleius Paterculus


Der Zeitgenosse ist Velleius Paterculus. Er veröffentlichte im Jahr 29 oder 30, also acht oder sieben Jahre vor dem Tod des Tiberius, eine kurz gefassteRömische Geschichte, gedacht als Vorarbeit zu einem ausführlicheren Werk, das jedoch nicht erhalten oder nicht zur Ausführung gelangt ist. Am ausführlichsten behandelt Velleius die Zeit der späten Republik und das von ihm selbst erlebte frühe Prinzipat. Tiberius wird von ihm außerordentlich positiv dargestellt, als idealer Herrscher ohne jeden Fehler. Das Buch endet sogar mit einem Gebet für Tiberius: Velleius ruft die Götter an, sie mögen den Staat, den Frieden und den Prinzeps beschützen, bewahren und behüten, und man möge diesem möglichst spät einen Nachfolger schenken, jedoch einen, der wie er in der Lage sei, auf den Schultern die Last eines Weltreichs zu tragen.1

Wegen seiner geradezu hymnischen Verehrung des Tiberius wird Velleius in der Forschung gerne als Schmeichler und Opportunist herabgewürdigt. Tatsächlich kannte er Tiberius persönlich. Er stammte aus dem Ritterstand, einer privilegierten Schicht der Gesellschaft, die die Kaiser als Reservoir für das zivile und militärische Führungspersonal nutzten. Insofern gehörte er zu einer sozialen Gruppe, die von den politischen und administrativen Verhältnissen im Prinzipat profitierte. Das schließt jedoch nicht aus, dass seine öffentlich artikulierten Sympathien für den Prinzeps nicht tatsächlich echt gewesen sind. Angesichts einer massiven Phalanx von Kritikern und Anklägern nimmt sich die kontrastive Haltung eines Velleius, gleichgültig, welc