Georg Vogeler
Was ist „DH“? Probleme und Perspektiven der Digitalen Geisteswissenschaften1
Es gibt keine Information über die Vergangenheit, die nicht in der Vergangenheit entstanden ist, und weil sie in der Vergangenheit entstanden ist, ist sie unter medialen und sozialen Bedingungen und im Zuge technischer Entwicklungen entstanden, die uns heute nicht mehr ohne Weiteres vertraut sind. Es ist die Aufgabe der historischen Grundwissenschaften (früher: Hilfswissenschaften), das Wissen über vergangene Kommunikations- und Gebrauchsformen (Kurrentschrift, mittelalterliches Latein, ausgestorbene Textformen usf.) aufrechtzuerhalten. Dies stellt eine Grundkompetenz für HistorikerInnen dar, aber ebenso für GermanistInnen und LinguistInnen und andere geisteswissenschaftlichen Berufszweige, die sich mit Quellen der Vergangenheit beschäftigen. Die Digitalen Geisteswissenschaften, die Digital Humanities (DH), kann man in diesem Sinne auch als eine Hilfs- und Grundwissenschaft bezeichnen, d.h., dass man mit digitalen Methoden etwas ,macht‘, damit man richtige Wissenschaft machen kann – sei es nun Geschichtswissenschaft, sei es Germanistik, sei es Linguistik. Das ist insofern richtig, als DH eine Querschnittsdisziplin ist, deren Ergebnisse in vielen anderen Disziplinen angewendet wird. Digitale GeisteswissenschaftlerInnen stehen in Kontakt mit FachwissenschaftlerInnen aus der eigenen oder einer benachbarten Disziplin, arbeiten gemeinsam an Projekten und versuchen Probleme zu lösen.
In der heutigen Wirklichkeit ist das aber nicht mehr richtig, weil auch die Historischen Grundwissenschaften eine eigenständige Disziplin geworden sind – und nicht nur Dienstleister für die Geschichtswissenschaft. Die Notwendigkeit, disziplinenübergreifend mit digitalen Methoden zu arbeiten, hat dazu geführt, dass man inzwischen auch in Österreich Professuren dafür einrichtet, dass man also Menschen anstellt, die nichts anderes tun sollen, als forschungsgeleitet zu unterrichten oder unterrichtsbezogen zu forschen. So einer bin ich. Ich bin als historischer Grundwissenschaftler ausgebildet, und was ich Ihnen erzählen werde, wird deshalb ganz viele Dinge enthalten, die Sie vielleicht gleich wieder vergessen werden, weil sie für Sie als Sprachwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftlerinnen am Rande Ihres Interessengebietes liegen. Sie können aber alles in den beiden Referenzwerken nachlesen, die ich zur Einführung in die Digitalen Geisteswissenschaften empfehle: Schreibmann et al. (2016) und Jannidis et al. (2017). Mittlerweile gibt es beinahe schon unangenehm viel Literatur zum Thema „Was ist DH?“
Ziel meines Vortrags ist es, vorab zu erklären, was DH sind, Ihnen also eine Einführung zu geben und Sie mit dem Grundwissen auszustatten, damit Sie die spezifischeren Inhalte, die Sie im bevorstehenden Semester hören werden, in das Fach einordnen können. Ich habe mich also ganz bewusst dagegen entschieden, ausschließlich Beispiele aus den Sprach- und Literaturwissenschaften zu wählen.
Zu einer Archäologie der DH: Vorgeschichten
Man kann die Geschichte der DH mit einer brillanten Programmiererin und Mathematikerin beginnen lassen, die die erste Abhandlung über das Programmieren geschrieben hat, und wir haben Glück, dass wir heute sagen können, wer hinter dem Kürzel „A. A. L.“ steht, mit dem die Abhandlung gezeichnet ist: Ada Lovelace (1815–1852) ist die Tochter von Lord Byron, die das Schicksal so vieler Frauen in der frühen Neuzeit und des 19. Jahrhunderts teilte, nämlich dass