: Volkmar Sigusch
: Praktische Sexualmedizin Eine Einführung. Erweiterte Neuausgabe
: Campus Verlag
: 9783593445717
: 1
: CHF 29.00
:
: Sozialwissenschaften allgemein
: German
: 212
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Sexuelle Probleme und Störungen können vielfältige Ursachen haben. In dieser, im Jahr 2005 im Deutschen Ärzte-Verlag erstmals erschienenen Einführung in die »Praktische Sexualmedizin« verschafft der renommierte Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch einen ganzheitlichen Zugang zu einem Feld, auf dem nach wie vor viel Unwissenheit und auch Sprachlosigkeit herrscht. Er beschreibt sexuelle Störungen und Probleme in jedem Lebensalter aus medizinischer, psychologischer und soziokultureller Sicht und bezieht dabei Fragen der Diagnostik, Beratung und Behandlung mit ein. Das Buch bietet damit die sexuologische Basiskompetenz und richtet sich sowohl an Ärzt_innen, Therapeut_innen und Psycholog_innen als auch an Sozialwissenschaftler_innen, Sexual- und Geschlechterforscher_innen. Erweiterte 2. Auflage mit einem aktuellen Vorwort von Volkmar Sigusch.

Volkmar Sigusch (1940-2023), Arzt und Soziologe, war einer der angesehensten Sexualwissenschaftler der Gegenwart. Als jüngster Medizinprofessor auf den ersten selbstständigen Lehrstuhl für Sexualwissenschaft berufen, entfaltete er - insbesondere als Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft im Klinikum der Universität Frankfurt am Main (1973-2006) - national und international eine außerordentliche Wirkung. Er gilt als Pionier der deutschen Sexualmedizin und als Begründer der Kritischen Sexualwissenschaft, außerdem war er ein erfahrener Sexual- und Paartherapeut. Sein in mehreren Auflagen erschienenes Lehrbuch »Sexuelle Störungen und ihre Behandlung« gilt als Standardwerk der Sexualmedizin und Psychotherapie. Sigusch gehörte dem Nobelkommittén des Karolinska Institutet in Stockholm zur Vergabe des Medizin-Nobelpreises an, war einer der Gründer der International Academy of Sex Research (IASR), wurde von den führenden Fachblätter The Journal of Sex Research und Archives of Sexual Behavior als Co-Editor für Europa berufen, von der Society for the Scientific Study of Sex, New York, zum Fellow und von der Harry Benjamin Gender Dysphoria Association zum Charter Member ernannt. Nicht zuletzt war Volkmar Sigusch ein brillanter Autor und Essayist. Publikationen der letzten Jahre unter anderem: »Neosexualitäten« (2005), »Geschichte der Sexualwissenschaft« (2008), »Personenlexikon der Sexualforschung« (2009, zusammen mit Günter Grau), »Die Suche nach der sexuellen Freiheit« (2011), »Sexualitäten« (2013) und »Kritische Sexualwissenschaft« (2019).
Vorwort Vor 15 Jahren habe ich für den Deutschen Ärzte-Verlag in Köln eine Einführung in die »Praktische Sexualmedizin« verfasst. Mit meiner Emeritierung sind deren Rechte wieder an mich zurückgefallen, sodass ich mich jetzt mit Texten aus dieser Einführung auch an so genannte Laien wenden kann. Dummerweise erhalten Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen hierzulande nach wie vor in ihrem Studium keine entsprechende Ausbildung. Sexualmedizin und Sexualpsychologie werden an unseren Universitäten nach wie vor nicht nach dem Gesetz unterrichtet. Nur an einigen Universitäten gibt es für die Studierenden kleine Einsprengsel. An wen ich damals beim Schreiben vor allem gedacht habe? Zunächst an Allgemein- und Hausärzt*innen, die viele Lebensläufe erleben, die Geheimnisse erfahren oder erraten, die Weichen stellen und falsche Entscheidungen verhindern können. Ich habe aber auch an psychologische Psychotherapeut*innen gedacht, weil sie dem Buch entnehmen konnten, an welche körperlichen Ursachen und an welche körperlichen Behandlungsverfahren zu denken ist, wenn ein Patient ein sexuelles Problem hat. Die Ärzt*innen wollte ich im Interesse der Sache vor allem mit der psychischen Seite der Probleme konfrontieren, die Psycholog*innen mit der körperlichen und beide zusammen mit der kulturellen. Obgleich die genannten Dimensionen im Lebensprozess untrennbar ineinander liegen, werden sie bei uns durch die historische Entwicklung der wissenschaftlichen Sphäre bedauerlicherweise immer wieder disziplinär getrennt. Nicht zuletzt aus diesem Grunde ist die medizinische und psychotherapeutische Versorgung von Patientinnen und Patienten mit sexuellen Problemen und Störungen in Deutschland nach wie erschütternd schlecht. Deshalb hoffe ich sehr, dass dieser Grundriss der Sexualmedizin meine lieben Kolleginnen und Kollegen und natürlich belesene Menschen aller Geschlechter anregen wird, eine notwendige sexualmedizinische Behandlung durch Ärzt*innen verschiedener Disziplinen zu erringen. Sehr traurig ist, dass eine curriculare und zertifizierte Fortbildung in zwei Stufen (»Sexuologische Basiskompetenzen« und »Sexualtherapie«), die wir vor Jahren für die lieben Kolleginnen und Kollegen etabliert haben, wieder verschwindet. Etliche der nachfolgenden Beiträge sind aus einer Fortbildungsserie hervorgegangen, die ich vor Jahren für Allgemein- und Hausärzt*innen geschrieben habe. Da diese Artikel wegen ihrer Kürze und Schnörkellosigkeit großen Anklang bei den Kolleginnen und Kollegen fanden, habe ich sie als Muster für diese Einführung in die praktische Sexualmedizin benutzt. Frankfurt am Main, im Juni 2020 Prof.?Dr. med. Dr. habil. Volkmar Sigusch Sexualität im kulturellen Wandel Veränderungen des Sexuallebens in den letzten Jahrzehnten Jeder Arzt, der das Sexualleben seiner Patienten ernst nimmt, weiß, dass die Wertvorstellungen, Sehnsüchte und Erfahrungen von Generation zu Generation erheblich differieren. Deshalb sind einige Bemerkungen zur allgemeinen Lage des Sexuellen in unserer Kultur notwendig, bevor einzelne Störungen und ihre Behandlung erörtert werden. Da der Arzt bei allen medizinischen Fragen, die nicht mit Hilfe naturwissenschaftlich begründeter Untersuchungsverfahren zu beantworten sind, auf sich selbst als »Untersuchungsinstrument« angewiesen ist, sollte er reflektieren, welcher Generation er selbst angehört und welchen Vorstellungen vom gesunden und glücklichen Liebesleben er folglich verpflichtet ist. Viele Ärztinnen und Ärzte, die heute praktizieren, gehören Generationen an, über die so genannte sexuelle Revolutionen hereingebrochen sind. Als sich die Werte und Normen, das Erleben und Verhalten zum Teil drastisch veränderten, befanden sie sich in jenem Alter, in dem noch nicht alle sexuellen Weichen gestellt sind. Sie wurden also, ob sie wollten oder nicht, von der sexuellen Revolution erfasst, selbst die, die sich dagegenstemmten. Denn auch der, der gegen den Strom schwimmt, schwimmt im Strom. Reale und symbolische Sexualität Zur Zeit der sexuellen Revolutionen wurde die Sexualität mit einer solchen Mächtigkeit ausgestattet, dass einige davon überzeugt waren, durch ihre Entfesselung sogar die ganze Gesellschaft stürzen zu können. Andere verklärten die Sexualität zur menschlichen Glücksmöglichkeit schlechthin. Generell sollte sie so früh, so oft, so vielfältig und so intensiv wie nur irgend möglich praktiziert werden. Generativität, Monogamie, Treue, Virginität und Askese waren Inbegriff und Ausfluss der zu bekämpfenden Repression. Dass mit der »Befreiung« erhebliche Fremd- und Selbstzwänge, neue Probleme und alte Ängste einhergingen, wollten die Propagandisten nicht wahrhaben. Sie verlangten zum Beispiel Geschlechtsverkehr in der Schule. Heute ist davon keine Rede mehr. Das, was die Generationen einer sexuellen Revolution als Lust, Rausch und Ekstase erlebten oder ersehnten, problematisierten unsere jüngeren Patienten unter dem Aspekt der Geschlechterdifferenz, der sexuellen Übergriffigkeit, der Missbrauchserfahrung, der Gewaltanwendung und der Infektionsgefahr infolge des Einbruchs der Krankheit AIDS. Diese Vokabeln habe ich mir nicht ausgedacht. Sie bezeichnen die Topoi der wissenschaftlichen Diskussion seit den 1980er-Jahren und die Themen, die Jugendliche und junge Erwachsene seither beschäftigten. Wurde früher die generative von der sexuellen Sphäre so sehr getrennt, dass man den Eindruck haben konnte, Fortpflanzung und Sexualität hätten gar nichts miteinander zu tun, erfolgten in den letzten Jahrzehnten andere Dissoziationen. Die wichtigste ist wohl die, deren Stichwort Geschlechterdifferenz heißt. Für viele Menschen, in und außerhalb der Wissenschaft, gibt es jetzt nicht nur eine Sexualität, die männliche als das Modell, deren Negativ die weibliche Sexualität ist, sondern zunächst einmal zwei deutlich unterschiedene Sexualitäten: die weibliche und die männliche. Dabei werden selbstredend die Differenzen übertrieben, wenn es heißt, Frauen seien generell friedfertig und immer Opfer, Männer dagegen seien prinzipiell gewalttätig, impotent und geil. Chancen und Risiken Jeder kulturelle Wandel birgt Chancen und Risiken. Die sexuellen Revolutionen bekämpften eine unerträgliche Heuchelei in allen Fragen des Geschlechtslebens, entpathologisierten Praktiken wie die Selbstbefriedigung, schnitten blödsinnige Zöpfe ab wie den Kuppeleiparagraphen, rangen um eine allgemein zugängliche, verträgliche und wirksame Kontrazeption, problematisierten das Verhältnis von Eltern und Kindern. Endlich wurden Dunkelfelder aufgehellt wie der sexuelle Missbrauch in der Familie, herrschte eine Pluralisierung der Lebensformen, von der frühere Generationen nicht einmal träumen konnten, wurde nicht mehr alles über den metaphysischen Kamm des ungeteilten Eros geschoren. Auf der Schattenseite aber tummeln sich nach wie vor die Übertreibungen und Verdächtigungen, die Vermarktungen und Banalisierungen. Der Arzt, der berät und behandelt, kommt nicht umhin, den ständigen kulturellen Wandel zu bedenken, dem die scheinbar natürlich vorausgegebene Sexualität unterliegt. Für unsere jungen Patientinnen und Patienten regiert kein König Sex mehr. Er wurde durch die Geschlechterkampf- und Missbrauchsdiskurse und auch durch die kulturelle Installation eines AIDS-Komplexes in den 1980er-Jahren vom Thron gestoßen. Heute erleben junge Menschen ihre Sexualität nicht mehr so dranghaft und unaufschiebbar wie i