Wer frei sein will, muss sich die Freiheit nehmen
Wer leben will, statt gelebt zu werden, der sollte die Quellen seines Denkens, Fühlens und Urteilens sorgfältig und kritisch erkunden. Das heißt, die in ihn eingepflanzten Glaubensstrukturen erforschen und deren innerpsychische »Geheimagenten« enttarnen, indem er seine eigenen, unausgesprochenen Glaubenssätze versprachlicht. Das ist der entscheidende Schritt vom automatischen zum aktiven Denken, denn es befreit unsere gedanklichen Gestaltungsmöglichkeiten. Es wird in der Regel übersehen, dass wir erst lernen müssen, unsere Gedanken zu »gestalten«, eben aktiv zu denken und nicht rein assoziativ. Nur wer seine Gedanken gestaltet, wer aktiv denkt, der kann auch sein Leben gestalten und die Rolle des passiven Opfers abwerfen. Ich würde sagen, in der Gestaltung unserer Gedankenwelt liegt unsere erste Freiheit. Die erste Freiheit des Menschen ist immer eine innere Freiheit, und ohne sie kann es keine wirkliche äußere Freiheit geben. Man wird sich sonst selbst immer wieder als Opfer irgendwelcher Umstände »erdenken«.
So können wir uns auch und gerade in der Krise neu (er-) finden. Wir werden offen dafür, zu erfahren, dass es immer und auf alles eine Antwort gibt. Auf diesem Weg nach innen, quasi auf der Expedition zu uns selbst, genießen wir zunehmend die Freiheit, jederzeit neu und immer angemessener unsere Gedanken, Gefühle und Bilder in Bezug auf unsere Mitmenschen und uns selbst zu gestalten. Nein, wir sind vom Leben keineswegs dazu verurteilt, in einem selbst gemachten inneren Gefängnis vor uns hin zu leiden! Es liegt an uns, den entscheidenden Schritt in die Bewusstheit zu gehen und uns selbst und die Welt so zu sehen und zu fühlen, wie es das Geburtsrecht – und die Verpflichtung – eines Menschen ist: innerlich und äußerlich frei.
Doch was hält uns zurück? Im Grunde wissen wir ja nur zu oft, was wir zu tun hätten – es ist vor allem unsere Angst, die uns daran hindert. Und diese Angst hat viele Namen: Gefühle von Scham und Peinlichkeit. Gefühle der Schwäche und des Ungenügens. Der Vergleich mit anderen. Hinter Letzterem steckt die Angst, nicht gut genug zu sein, möglicherweise sogar das Gefühl der eigenen Wertlosigkeit.
Ängste blockieren uns, sobald wir denken: Wenn ich über meine verletzten Gefühle, über meine Momente der Schwäche spreche, dann mache ich mich doch nur lächerlich, dann werde ich nicht mehr respektiert, dann bemitleiden mich die anderen, dann werde ich nicht mehr geliebt, nicht mehr anerkannt – möchte ich womöglich sogar gefürchtet werden? Denn wer liebt oder respektiert schon Schwächlinge und Verlierer? An diesem Punkt entscheidet sich sehr oft, ob wir den Mut aufbringen, ins eigene Gefühl zu gehen. Haben wir den Mut, jetzt über den Tellerrand zu schauen, über die alten Muster hinauszuwachsen? Oder verfallen wir wieder in die überkommenen Routinen des Verdrängens, der Flucht und des Weglaufens?
Viele Jahre habe ich mich in diesem Teufelskreis bewegt, bin ich vor meinen Gefühlen und nicht geklärten Problemthemen davongelaufen. Ich bin vor dem langen Schatten meines Vaters in die USA geflohen, habe sehr hart daran gearbeitet, Amerikaner zu werden und als eine ArtWalter from Wisconsin durchzugehen, denn dort gibt es viele Deutschstämmige und tatsächlich sogar eine bekannte Kaufhauskette namensKohl’s Departmentstore … 1990 war ich nur Millimeter davon entfernt, dort drüben mein Lebensglück zu finden, so glaubte ich es jedenfalls. Aber ich musste einsehen: Man kann dem eigenen Schatten nicht entkommen, bevor man nicht Licht in seine Vergangenheit gebracht hat. Sonst holt er einen erbarmungslos ein, selbst auf der anderen Seite des Atlantiks.
Lange, sehr lange vermied ich es, wo es nur ging, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Erst der schier unerträgliche Schmerz meiner größten persönlichen Krise zwang mich dazu, eine finale Entscheidung über die einzig noch mögliche Alternative zu treffen: weiter so bis in den Abgrund – oder Aufbruch, Neuanfang auf neuen Wegen. Erst die Macht der Verzweiflung gab mir den Mut – oder vielleicht sollte ich besser sagen, die Freiheit –, meine verletzten Gefühle anzuschauen und anzunehmen, mit ihnen in Kontakt zu treten, »ins eigene Gefühl zu kommen«.
Doch das war nur ein erster Schritt. Ich musste lerne