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Gendarmerie-Feldweibel Urs Rüthli vom Dezernat Kriminalpolizei bei der Graubündener Kantonspolizei in Chur wippte auf seinem ausgesessenen Schreibtischstuhl, während er den ersten Bürokaffee des Morgens trank und dabei die Protokolle aus den einzelnen Polizeiposten las. Da war übers Wochenende wieder einiges los gewesen: Ein amoklaufender Ehemann in Arosa, Fahrerflucht in Chur, randalierende holländische Hotelgäste in Flims, ein Fall von illegaler Prostitution in Lenzerheide, die Kollegen in Silvaplana hatten einen völlig unterkühlten türkischen Obdachlosen in einer Garage aufgegriffen und vor dem Erfrieren gerettet, der Polizeiposten Samedan meldete den Fund eines herrenlosen deutschen Bergwacht-Ski-Doos in der Flaz. Sachen gibt’s! Rüthli griff sich an die Stirn und fuhr mit der flachen Hand durch das bereits leicht angegraute Bürstenhaar. Kollege Korporal Hürzeler vom Schreibtisch gegenüber registrierte die Bewegung aus den Augenwinkeln und kommentierte sie seinerseits mit einem leichten Anheben der Augenbrauen. Der Rüthli wieder, er regte sich immer auf, wenn irgendwo etwas nicht nach Recht und Ordnung lief. Wie uncool. Hürzeler grinste in sich hinein und widmete sich Wichtigerem.
In Splügen stand ein Hotel in Flammen, in St. Moritz haben Unbekannte im Coop-Markt eingebrochen und die Kühlregale leergeräumt ... Rüthli seufzte. Der Posten Pontresina berichtete von einem Leichenfund im Morteratsch-Gletscher. Rüthli las das Protokoll aufmerksam durch. Die Leiche war noch nicht geborgen. Wegen des schlechten Wetters. Die Unterstützung der Kriminalpolizei wurde angefordert. Seitlich auf den Protokollausdruck hatte der Oberleutnant, Rüthlis Vorgesetzer, ein rotes Ausrufezeichen markiert und „Rüthli“ daneben geschrieben. Das bedeutete, dass er sich noch heute Morgen auf den Weg nach Pontresina machen sollte. Immer noch besser, als der Papierkram auf dem Schreibtisch. Er warf einen Blick zur trüben Fensterscheibe hinaus. Leichter Nieselregen ging über Chur nieder.
Feldweibel Rüthli spähte zum Nachbarschreibtisch hinüber, wo Korporal Pirmin Hürzeler soeben zur dienstlichen Lektüre die „Blick“ aufblätterte. Hürzeler war ein junger Kerl, ein frischer Kollege, der für Rüthlis Geschmack den Beruf nicht ernst genug nahm. Aber er war willig, und Rüthli hatte sich seiner angenommen. „Wir fahren nach Pontresina!“, rief er über die Schreibtische hinweg. „Leichenfund!“.
Widerwillig legte Hürzeler die Zeitung zur Seite und griff nach seiner Uniformjacke. Hürzeler war ein langer Lulatsch, dem die Gendarmerieuniform an den Ärmeln zu kurz, am Kragen zu weit und im Kreuz zu breit geraten war, so dass er darin wirkte wie die Parodie eines Zirkusdompteurs. Aber er stellte keine langen Fragen. Er verließ sich ganz auf Rüthli. Der würde schon wissen, was zu tun war. Er wusste immer Bescheid – ein Vorbild an Diensteifer, Pflichtbewusstsein, Genauigkeit und polizeilicher Aufopferung. In mehr als zwanzig Dienstjahren hatte Rüthli sich vom kleinen Verkehrspolizisten mit mangelhafter Schulbildung langsam und beharrlich nach oben gearbeitet. Dass er es einmal zum Feldweibel mit besonderen Aufgaben bei der kantonalen Kriminalpolizei bringen würde, hätte er sich nicht träumen lassen. Er war kein Überflieger, kein grandios