: Christine Gerber
: Paulus, Apostolat und Autorität oder Vom Lesen fremder Briefe
: TVZ Theologischer Verlag Zürich
: 9783290176969
: Theologische Studien NF
: 1
: CHF 10.70
:
: Bibelausgaben
: German
: 100
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Von keiner anderen Person des entstehenden Christentums, über ihr Leben und Denken, wissen wir so viel wie von Paulus aus Tarsus. Seine Briefe sind einzigartige und authentische Zeugnisse. Auch deshalb erhielt Paulus im Protestantismus einen besonderen Stellenwert als Apostel und Autorität, ja als Vorbild im Amt. Nicht selten jedoch fehlt der Paulusrezeption die Distanz, nicht nur bei Luther, der sich mit Paulus identifizierte; auch heute werden seine Anreden in Briefen gern direkt auf 'uns' bezogen. Die Studie möchte ins Gedächtnis rufen, dass wir fremde Briefe lesen, die fernen Menschen des Altertums galten und einen prämodernen Autoritätsanspruch des Paulus voraussetzen. Nur in der Wahrnehmung von Distanz und Fremdheit können wir die Paulusbriefe angemessen für die Gegenwart interpretieren.

Christine Gerber, Dr. theol., Jahrgang 1963, ist Professorin für Neues Testament an der Universität Hamburg.

|19| II »Wie wenn ich anwesend wäre« (1Kor 5,3) – zur Bedeutung der Brieflichkeit


Ein Brief war in der Antike neben Reisen die einzige Möglichkeit, Kontakt zu halten zu Menschen, die andernorts lebten. Einen Privatbrief zuzustellen, bedeutete einigen Aufwand. Manch eine, des Schreibens unkundig, musste sich von professionellen Briefschreibern helfen lassen. Und da der Brief erst zeitversetzt ankam, wartete man auf eine Antwort also umso länger.21 Das bestimmte gewiss auch die Gedanken bei der Abfassung.

Ist das alles heute völlig anders, so scheint es mir doch zwei Konstanten zu geben zwischen der brieflichen Kommunikationskultur der Antike und der elektronisch ermöglichten Permanenz unmittelbarer Kontakte heute: Es gibt erstens eingespielte Konventionen für die Kommunikationsformen. So gilt für eine E-Mail, dass eine fehlende Anrede nicht als Ausdruck mangelnder Wertschätzung zu lesen ist. Und zumindest wenn man nur gelegentlich eine SMS von der jüngeren Generation erhält, merkt man, wie eingespielt bei ihnen Liebesbekundungen und Formeln oder Symbole sind. Zweitens ist die Pflege einer Beziehung ein wesentliches Motiv für viele Kontakte, während der Informationsaustausch oft nachrangig ist. Dieser Eindruck entsteht nicht nur, wenn jemand gleich 267 Freunde bei Facebook »addet«, sondern auch oft, wenn man unfreiwillig private Telefonate Unbekannter mithört.

Diese beiden Aspekte, eingespielte Konventionen und die Funktion der Beziehungspflege, sind auch grundlegend, wenn wir fragen, was der briefliche Charakter der Paulusschriften für unsere Lektüre bedeutet. Denn auch wenn die Paulusbriefe nicht den in vielen Papyri erhaltenen Privatbriefen entsprechen, weil sie länger und an eine größere Öffentlichkeit adressiert sind, so sind es doch keine Kunstbriefe wie die des Cicero oder Seneca.22 Sie sind nicht einfach einzuordnen, da sie abgesehen vom Philemonbrief an Gruppen gerichtet sind. Aber sie sind insofern »echte« Briefe, als sie der Beziehungspflege in Zeiten räumlicher Trennung dienen. Und sie folgen in Form und Topik den damaligen Gepflogenheiten für die Brieferstellung. Wir|20| beginnen mit Beispielen für Letzteres, um daraus die Bedeutung der brieflichen Gattung für die »Beziehungspflege« zu erhellen.

1. Zur Form und Topik der Paulusbriefe23


Die Beobachtung von Formeln und Topoi, Allgemeinplätzen, führt uns die konventionelle Seite der Paulusbriefe und zugleich ihr Spiel mit typischen Formen vor Augen. Kenntnis von den antiken Konventionen haben wir durch die Analyse von echten Papyrusbriefen, die oft bewegende Einblicke in das gelebte Leben geben,24 aber auch von wenigen erhaltenen theoretischen Werken, die mit Tipps zum Stil und Beispielbriefen die Briefabfassung anleiten.25

»Paulus, berufener Apostel Jesu Christi nach dem Willen Gottes, und der Bruder Sosthenes an die Gemeinde Gottes, die in Korinth ist [...]: Gnade sei euch und Friede von Gott, unserem Vater, und von dem Herrn Jesus Christus« (1Kor 1,1–3), mit solchen oder ähnlichen Präskripten beginnen alle uns erhaltenen Paulusbriefe. Die Präskripte folgen einer festen Form: Sie beginnen wie alle antiken Briefe stets mit der Nennung des Verfassers im Nominativ (superscriptio),26 dann der Adressierten im Dativ (adscriptio) und sc