Varanasi
Donnerstag, 28. Februar 2013
Aus der Times of India: „Papst Innozenz XVII. ist heute zurückgetreten. Vor nicht einmal drei Wochen hatte er völlig überraschend bekanntgegeben, dass er sein Amt niederlegen wolle. Er sei zur Gewissheit gelangt, so der heilige Vater der Katholiken im Wortlaut, dass seine Kräfte infolge des vorgerückten Alters nicht mehr geeignet seien, um in angemessener Weise den Petrusdienst auszuüben. Er wird nach Angaben eines Vatikan-Sprechers in zwei Monaten in das Klausurkloster Mater Ecclesiae ziehen, das sich innerhalb des Vatikans befindet. Innozenz XVII. war der erste deutsche Papst seit 500 Jahren. Es ist das erste Mal seit dem Jahr 1294, dass ein Papst freiwillig von seinem Amt zurücktritt.“
Lukas Arnold senkte die Zeitung. Der Times of India war die Nachricht gerade einmal sechs Zeilen wert gewesen. Eine kurze Meldung auf der Seite „Global“, eingebettet zwischen einem längeren Text über David Beckhams neue Karrierestation Paris und einem Aufmacherbild über das wieder einmal angeblich nahe Beziehungsende von „Brangelina“, wie Angelina Jolie und Brad Pitt vom Boulevard genannt wurden.
Warum der Papst wirklich zurückgetreten war, konnte Arnold sich denken. Aber darüber stand natürlich nichts in diesem kurzen Bericht. Auch in deutschen und italienischen Publikationen, die sicherlich sehr viel ausführlicher darüber berichtet hatten, würde nichts über die wahren Gründe des Rücktritts zu finden sein. Die Kirche würde schon dafür sorgen, dass nichts davon an die Öffentlichkeit drang. Er, Lukas Arnold, war einer der wenigen Menschen außerhalb der katholischen Kirche, die darüber Bescheid wussten.
Unter anderem deshalb war er ja jetzt auch hier.
Arnold leerte den kleinen Wegwerfbecher aus Ton mit dem inzwischen kalten Rest Chai und warf ihn nach einem kurzen Zögern auf die Stufen vor sich. Alle machten das so. Abends, wenn der Chai-Shop schloss, fegte ein Angestellter die Reste zusammen und entsorgte sie. Dennoch widerstrebte es Arnold, jahrzehntelang mit deutscher Mülltrennung sozialisiert, seine Tasse einfach auf den Boden zu werfen. Vorsichtig spuckte er ein paar Gewürzreste hinterher, die sich auf dem Grund der Tasse befunden hatten und mit dem letzten Schluck in seinem Mund gelandet waren.
Auch das widerstrebte ihm eigentlich – etwas auf die Stufen zu spucken –, aber gleichzeitig fühlte er eine große Gleichgültigkeit darüber. Es war so egal ...
Seit vier Monaten war er jetzt in Varanasi. Noch immer wachte er morgens mit einem Gefühl von Fremdheit auf. Im ersten Moment glaubte er regelmäßig, in seinem alten Bett in Berlin oder auch im Haus seiner Großmutter in Karlsruhe zu liegen. Stattdessen blickte er auf eine weiße, grob gekalkte Wand. Statt Kirchenläuten und Verkehrslärm hörte er die Glocken aus dem Shiva-Tempel nebenan und statt nach Pizza aus dem Imbiss unten in seinem Berliner Wohnhaus roch es nach fauligem Gemüse aus dem Rinnstein, nach dem Kerosin, mit dem die Kocher betrieben wurden, und nach heißer Milch, mit der der Chai, der indische Tee, aufgekocht wurde.
Er hatte sich ein paar Gewohnheiten zugelegt. Abends zum Beispiel ging er regelmäßig ans Ghat, wie die Treppen hinunter zum Ganges hießen, holte sich einen Chai und sah sich den Sonnenuntergang an. Mit dem heißen Getränk ließ er sich auf den Stufen nieder und blinzelte auf das Wasser.
Nach alldem, was geschehen war, hatte er sich einen gewissen Fatalismus zugelegt, wie ihn auch die Hindus gegenüber dem Leben zeigten: Es war nun einmal, wie es war. Ein jeder hatte seinen Platz auf dieser Erde zugewiesen bekommen und seiner befand sich jetzt eben in Varanasi. Dass der Rücktritt des Papstes letztlich damit zusammenhing, war eine andere Geschichte, die ihm sowieso niemand glauben würde. Was auch wieder egal war.
Rom und Varanasi waren beides heilige Städte. Was Rom für die katholische Christenheit war, bedeutete Varanasi für die Hindus. Die Stadt galt als eine der ältesten der Menschheit. Es gab unzählige Tempel und reich geschmückte alte Maharadscha-Paläste. Und wie in Rom wurden seltsame religiöse Kulte praktiziert: Jeden Tag kamen zehntausende indische Touristen hierher, ließen sich den Kopf kahl scheren und nahmen anschließend ein rituelles Bad im heiligen Fluss Ganges, das damit endete, dass sie ein paar Schlucke aus dieser Kloake tranken, die im Himalaja entsprang und auf ihrem Weg über Kalkutta bis zum Meer so viel Abwässer und Chemie in sich aufnahm, dass sie bis V