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Botanische Merkmale der Mistel
Es gibt rund 1400 Pflanzen, die im weitesten Sinn als Mistel bezeichnet werden. Gemeinsam ist allen, daß sie nicht in der Erde, sondern auf Bäumen wachsen. Nur aus einer von ihnen – der Weißbeerigen Mistel (Viscum album) – werden die Medikamente hergestellt, die heute gegen Krebs eingesetzt werden. Sie wächst in Europa in drei Unterarten (subspezies = ssp.): auf Laubbäumen (Viscum album ssp. album), auf Kiefern (Viscum album ssp. austriacum) undauf Tannen (Viscum album ssp. abietis). Die Laubbaummistel bevorzugt Apfelbaum und Pappel, sie wächst aber auch auf Ahorn, Birke, Linde, Robinie, Weide, Weißdorn und Mandel. Auf Eiche, Esche, Ulme, Nuß-und Birnbaum, Hasel, Rose und Platane gedeiht sie nur selten. Auf Buchen wachsen Misteln überhaupt nicht. Warum, hat bisher noch niemand herausgefunden.
Die Weißbeerige Mistel kommt in ganz Europa vor, aber auch in Nordafrika, im vorderen Orient, in Zentralasien und Japan. Sie gedeiht überall, wo es feucht und hell genug ist. Extremen Frost übersteht sie nicht, deshalb wächst sie in Nordeuropa nur vereinzelt. Im Süden beschränken starke Sonneneinstrahlung und Trokkenheit ihr Vorkommen. Die seltenen Eichenmisteln wachsenvor allem in Frankreich, wo sie günstige Bedingungen vorfinden.
Die deutsche Bezeichnung »Mistel« geht zurück auf einen altgermanischen Wortstamm, der zum Beispiel in der altnordischen Dichtung »Edda« als »Mistilteinn« (Mistelzweig) erscheint.
Die erste umfangreiche Darstellung von Wachstum und Biologie der Mistel verfaßte Anfang des 20. Jahrhunderts der Botaniker Karl von Tubeuf [1862–1941]. Seine Mistel-Monographie ist nach wie vor eine wichtige Quelle für jeden Forscher. Von ihm stammt der vielzitierte Satz: »Nichts an dieser Pflanze ist normal.«5
Bei der Mistel ist alles anders
Die Mistel unterscheidet sich in fast allen Merkmalen von einer normalen Pflanze:
→Sie wächst nicht in der Erde, sondern auf Bäumen.
→Sie hat keine Wurzeln, sondern nur einen »Senker«, mit dem sie sich im Holz ihres Wirtsbaums verankert. Der Senker breitet sich nicht im Baum aus wie Wurzeln in der Erde, sondern wächst mit der Lebensschicht des Wirtsbaumes unterhalb der Rinde nach außen, in die Peripherie. Über den Senker wird die Mistel von ihrem Wirtsbaum mit Wasser und mineralischen Nährstoffen versorgt.
→Die Mistel betreibt – wie alle Pflanzen – über den grünen Farbstoff (Chlorophyll) in Blättern und Stengeln mit Hilfe des Sonnenlichts selbst Photosynthese und gilt somit als Halbschmarotzer. Sie wäre also durchaus in der Lage, die nötigen organischen Nährstoffe eigenständig herzustellen. Trotzdem bezieht sie einen großen Teil der organischen Stoffe ebenfalls von ihrem Wirtsbaum, und zwar vor allem im Frühsommer, wenn sie weniger Licht zur Verfügung hat, weil die Bäume voll belaubt sind.
→Die Mistel verhält sich in Wachstum und Fruchtreife entgegengesetzt zu den meisten anderen Pflanzen. Im Winter, wenn die Vegetation stillsteht, setzt bei ihr der Wachstums- und Regenerationsschub bereits wieder ein. Sie ruht dagegen im Sommer und Herbst, wenn die anderen Pflanzen üppig blühen und Früchte tragen. Die Mistel blüht von Februar bis März/April und trägt ab November/Dezember reife Früchte.
→Anders als normale Laubblätter haben Mistelblätter keine ausgeprägte Ober- und Unterseite, und sie richten sich nicht nach der Sonne aus. Die Spaltöffnungen, mit denen Kohlendioxid und Wasser aufgenommen respektive abgegeben werden, überziehen sowohl die Ober- als auch die Unterseite (bei den anderen Pflanzen liegen sie nur an der Blattunterseite). Das Blatt selbst ist von fünf kaum verzweigten Leitbahnen durchzogen, die sich geradlinig und nicht wie sonst netzartig über das Blatt ausbreiten. Ähnlich einfache Blattstrukturen weisen normale Pflanzen nur im Keimstadium auf.