Einleitung
DIE VERLORENE KUNST ZU STERBEN
Für unsere Vorfahren war der Tod kein Geheimnis. Sie wussten, wie es aussieht, wenn jemand stirbt. Sie wussten, wie man am Sterbebett sitzt. Sie hatten Bräuche und Bücher, die ihnen Hilfestellung gaben – und viel praktische Erfahrung.
Betrachten wir z. B. die Anwesenheit des Todes im Leben meiner Ur-Ur-Ur-Großeltern Philippa Norman, einer Hausangestellten, und John Butler, eines Bürsten- und Blasebalgmachers. Sie waren arme Quäker, heirateten 1820 in Bristol, England, und hatten vier Kinder, von den zwei schon vor ihrem zweiten Geburtstag starben.
In der Hoffnung auf ein besseres Leben reiste die Familie 1827 per Schiff nach New York. Dort entband Philippa einen totgeborenen Sohn und Jahre später saß sie an Johns Bett, als er an Tuberkulose starb, eine heute durch Impfung vermeidbare und mit Antibiotika behandelbare Krankheit.
Als 36-jährige Witwe reiste Philippa zurück nach Bristol, wo ihre Tochter Harriet im Alter von 22 Jahren an Tuberkulose starb. Nur eines von Philippas fünf Kindern – ihr Sohn Philip – lebte lang genug, um eigene Kinder zu haben. Und eines dieser Kinder, Philips Lieblingstochter Mary, starb 1869 im Alter von dreizehn Jahren, als Typhus, eine weitere vermeidbare Krankheit, die von ihr besuchte Quäker-Schule erfasste.
Wenn Sie sich Ihren eigenen Familienstammbaum genauer anschauen, werden Sie wahrscheinlich auf ähnliche Geschichten stoßen.
Die meisten Menschen in den entwickelten Ländern leben in einer anderen Welt, in der das Sterben an den äußersten Rand des Lebenszyklus gedrängt wurde. Dort erwartet der Tod uns oft in einer Gestalt, die unsere Vorfahren nicht erkennen würden. Wenn man den Tod so lange aufgeschoben hat wie meine Familie, trifft er uns oft unvorbereitet.
Mein Vater war vital bis zu seinem 79. Lebensjahr. Dann, an einem Morgen im Herbst, kam er aus seinem Arbeitszimmer im Untergeschoss, setzte den Kessel auf und hatte einen schrecklichen Schlaganfall. Meine Mutter und ich, die seine Betreuer wurden, hatten wenig Ahnung von dem, was vor uns lag, und waren noch weniger vertraut mit den verwirrenden Gepflogenheiten der modernen Medizin.
Die folgenden Jahre waren eine seelische Tortur, die mich sehr belastete. Ich wurde von der Intensität meiner Liebe zu meinen Eltern wie überfallen und flog häufig quer durchs Land, um ihnen zu helfen. Mein Vater und ich erlebten aufs Neue die Zärtlichkeit, die meine frühe Kindheit geprägt hatte. Ich schrieb ihm Briefe der Dankbarkeit für alles, was er je für mich getan hatte. Und nachdem er gestorben war, ergriff meine unerschütterliche Mutter, mit der ich eine leidenschaftliche und streitbare Beziehung hatte, die Gunst ihres eigenen nahenden Todes, um sich bei mir für kleinere Verletzungen zu entschuldigen und mir den Segen für meine Beziehung zu meinem zukünftigen Ehemann zu geben.
In gewisser Weise hatten meine Eltern einen guten Tod. Aber unsere Familie litt auch unnötig unter dem langen Niedergang meines Vaters. Wir haben an entscheidenden Punkten falsche Entscheidungen getroffen, auf hilfreiche Ressourcen verzichtet und meinen Vater unwissentlich schwierigen Situationen ausgesetzt, die seine letzten Jahre schlimmer machten, als sie sein mussten. Vor allem kannten wir nicht die Grenzen der Medizin und den Schaden, den sie anrichten kann, wenn sie auf gleiche Weise auf einen alternden Körper angewendet wird wie auf die Körper junger Menschen.
Am meisten bedauere ich, dass meine Mutter und ich zwei Jahre nach seinem ersten Schlaganfall den Ärzten meines Vaters erlaubten, ihm einen Herzschrittmacher zu verabreichen. So verlängerten sie sein Leben, bis seine Tage ohne Freude waren.
Er verbrachte seine letzten sechseinhalb Jahre in Abhängigkeit von meiner erschöpften Mutter, wobei er Schritt für Schritt abbaute – taub, beinahe blind, dement und voller Leid.
Kurz vor dem Ende wollten meine Mutter und ich mit einem modernen Übergangsritus beginnen: Wir baten seine Ärzte, die medizinischen Geräte zu deaktivieren, die seinen Tod zwar verhinderten, ihm aber kein anständiges Leben mehr ermöglichen würden. Seine Ärzte weigerten sich.
Mein Vater starb schließlich friedlich im Verlauf von fünf Tagen in einem Hospiz, während sein Herzschrittmacher immer noch tickte. Meine Mutter und ich hatten uns ganz bewusst gegen eine Behandlung seiner Lungenent