: Harald Lesch, Thomas Schwartz
: Unberechenbar Das Leben ist mehr als eine Gleichung
: Verlag Herder GmbH
: 9783451822094
: 1
: CHF 12.30
:
: Gesellschaft
: German
: 176
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Gibt es eine perfekte Gesellschaft? Nein. Aber in welcher Gesellschaft wollen wir leben - vor allem, wenn es schwierig wird? Helfen da Physik, Mathematik oder die Wirtschaft? Harald Lesch und Thomas Schwartz analysieren mit Scharfsinn und Witz, welche Missstände und Fehlentwicklungen uns beschäftigen. Viel wichtiger aber: Sie begnügen sich nicht mit Krisen-Gejammer, sie wollen mehr. Ihre Schlüsse sind wissenschaftlich präzise, sie entlarven Verschwörungstheorien und Vorurteile, und stellen konkrete Forderungen, an Politik, Wirtschaft und jeden einzelnen. Pointiert und vor allem kreativ erklären Lesch und Schwartz, weshalb das Dorf-Prinzip hilft, singen das Lob der Grenze und lassen eine Freiheit fühlen, die Dialekt spricht und Raum gibt. Ein faszinierendes und bahnbrechendes Buch - ein Buch so unberechenbar wie das Leben.

Harald Lesch, geb. 1960, ist ein deutscher Astrophysiker, Naturphilosoph und Fernsehmoderator. Er studierte Physik und Philosophie in Gießen und Bonn und war später am Max-Planck-Institut für Radioastronomie (MPIfR) tätig, 1992 wirkte er als Gastprofessor an der University of Toronto, 1994 erfolgte seine Habilitation. Lesch ist als Fernsehmoderator und Autor bekannt, seine letzten Bücher waren allesamt Bestseller. Thomas Schwartz, Prof. Dr., geb. 1964, studierte Theologie und Philosophie in Münster, Augsburg und Rom. 1990 wurde er zum Priester geweiht und 2001 im Fach Moraltheologie an der Universität Freiburg promoviert. Schwartz lehrt heute Wirtschafts- und Unternehmensethik an der Universität Augsburg und ist Pfarrer in Mering. Er ist bekannt aus mehreren TV-Sendungen, gefragter Redner und Verfasser mehrere Bücher. Simon Biallowons, geb. 1984, ist studierter Philosoph und Absolvent der katholischen Journalistenschule ifp. Er arbeitete als Korrespondent in Rom, lebte im Nahen Osten und berichtete als Reporter für verschiedene Medien aus vielen Ländern. Biallowons ist Verfasser mehrerer Bestseller und derzeit Geschäftsführer und Cheflektor des Herder Verlages.

Stabile Seitenlage und Puls auf 60:
Raus aus der Karussell­gesellschaft!


Besuch beim Arzt, die Prozedur kennt man nur zu gut: Na, wo zwickt’s denn? Gibt es irgendwelche Vorerkrankungen? Sind die vielleicht familiär bedingt? Versuchen Sie sich doch zu erinnern! Ach, und wann waren Sie denn zum letzten Mal beim Arzt? Nur keine Scheu! – Das alles kann routinemäßig und völlig problemlos ablaufen; eine solche Befragung kann aber auch ziemlich anstrengend und unangenehm werden, für beide Seiten. Und doch ist sie fast immer unverzichtbar, diese im Fachjargon Anamnese genannte Befragung, denn sie bahnt den Weg zu einer im besten Fall präzisen Diagnose, die schließlich in eine Therapie mündet.

Die Anamnese wird aber nicht nur von Ärzten bei ihren Patienten angewandt. Sie stellt auch eine beliebte Methode dar, wenn es darum geht, menschliche, soziale Systeme zu analysieren. Auch hier wird nach Symptomen geforscht, auch hier werden Vorbedingungen abgeklopft, und es werden Prozesse und Entwicklungen auf Herz und Nieren untersucht. Ganz ohne Zweifel, das ist zweckmäßig. Und doch möchten wir anders vorgehen, wenn wir uns fragen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Denn die unterschwellige Prämisse der Anamnese lautet, dass der Patient eben ein Patient ist, also krank. Dass er Symptome aufweist und eine Behandlung braucht. Zwar sind wir auch der Meinung, dass unsere Weltgemeinschaft, dass unsere deutsche Gesellschaft und schließlich viele einzelne Existenzen Hilfe oder gar Behandlung brauchen. Nur drängt es sich bei der Methode der Anamnese auf, ausschließlich und exakt zwischen krank und gesund zu unterscheiden. Doch solch eine klare Unterscheidung existiert nicht, wenn wir die Gesellschaft in den Blick nehmen. Tagtäglich sehen wir Symptome, die wir vielleicht als »ungesund« erkennen und erklären können. Aber eine gesunde Gesellschaft im Sinne einer perfekten Gesellschaft hat nie existiert und wird nie existieren. Das Leben – ob wir damit nun das Leben auf unserem Planeten insgesamt meinen oder jenes in unserer Gesellschaft, ob wir das Leben unseres Nachbarn ins Auge fassen oder unser eigenes – ist nie so eindeutig. Es ist weder schwarz noch weiß, sondern oft bunt und manchmal grau. Deswegen können wir es eben auch nicht einfach als gesund oder krank charakterisieren.

Ja, was will sie denn? Ja, was hat er denn?


In den folgenden Kapiteln werden wir auf Dinge zu sprechen kommen – und es werden gar nicht so wenige sein –, die wir harsch kritisieren. Es wird um den sogenannten Turbokapitalismus gehen und um die völlige Ökonomisierung unserer Welt. Wir werden uns mit der Reduktion des Menschen auf sein Funktionieren beschäftigen, als wäre er nichts weiter als eine Maschine, wie Charlie Chaplin das in seinem FilmModerne Zeiten vor Jahrzehnten bereits so wunderbar und weitsichtig karikiert hat. Wir werden einen Blick werfen auf etwas, das wir Streckengeschäftsmentalität nennen, und unseren ausufernden Technikwahn hinterfragen. Und schlussendlich werden wir uns einer bestimmten Betrachtung der Welt widmen, die wir als Excelisierung unseres Lebens bezeichnen möchten, und einer falsch verstandenen Auffassung von Naturwissenschaft. – Was passiert, wenn mathematische Gleichungen auf menschliches Zusammenleben angewandt werden? Was ist das Risiko, wenn physikalische Gesetze zu Handlungsmaximen erhoben werden? Das sind Paradigmen, die von enormer Bedeutung sind und die unser Leben mehr prägen, als uns oft bewusst ist.

Wir kritisieren indes solche Entwicklungen nicht nur, sondern zeigen konkrete Lösungen und alternative ­Wege auf. Diese Lösungen und Vorschläge könnte man als Therapieschritte oder Medikamente auffassen, doch das wäre aus unserer Sicht anmaßend. Unsere Vorschläge sind nichts anderes als eben Vorschläge, es sind Ideen, keine erprobten Rezepte und schon gar keine Patentrezepte. Und insofern ist es, wenn wir doch an mancher Stelle den Vergleich zu einem Patienten, einem Arzt oder Krankenhaus ziehen, immer unter der Prämisse zu verstehen, dass wir nicht davon ausgehen, unsere Welt sei einfach »krank« und müsse wieder »gesund« werden.

Bei einem Patienten, der zum Arzt kommt und im Anamnesegespräch sitzt, dreht sich