Besuch beim Arzt, die Prozedur kennt man nur zu gut: Na, wo zwickt’s denn? Gibt es irgendwelche Vorerkrankungen? Sind die vielleicht familiär bedingt? Versuchen Sie sich doch zu erinnern! Ach, und wann waren Sie denn zum letzten Mal beim Arzt? Nur keine Scheu! – Das alles kann routinemäßig und völlig problemlos ablaufen; eine solche Befragung kann aber auch ziemlich anstrengend und unangenehm werden, für beide Seiten. Und doch ist sie fast immer unverzichtbar, diese im Fachjargon Anamnese genannte Befragung, denn sie bahnt den Weg zu einer im besten Fall präzisen Diagnose, die schließlich in eine Therapie mündet.
Die Anamnese wird aber nicht nur von Ärzten bei ihren Patienten angewandt. Sie stellt auch eine beliebte Methode dar, wenn es darum geht, menschliche, soziale Systeme zu analysieren. Auch hier wird nach Symptomen geforscht, auch hier werden Vorbedingungen abgeklopft, und es werden Prozesse und Entwicklungen auf Herz und Nieren untersucht. Ganz ohne Zweifel, das ist zweckmäßig. Und doch möchten wir anders vorgehen, wenn wir uns fragen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Denn die unterschwellige Prämisse der Anamnese lautet, dass der Patient eben ein Patient ist, also krank. Dass er Symptome aufweist und eine Behandlung braucht. Zwar sind wir auch der Meinung, dass unsere Weltgemeinschaft, dass unsere deutsche Gesellschaft und schließlich viele einzelne Existenzen Hilfe oder gar Behandlung brauchen. Nur drängt es sich bei der Methode der Anamnese auf, ausschließlich und exakt zwischen krank und gesund zu unterscheiden. Doch solch eine klare Unterscheidung existiert nicht, wenn wir die Gesellschaft in den Blick nehmen. Tagtäglich sehen wir Symptome, die wir vielleicht als »ungesund« erkennen und erklären können. Aber eine gesunde Gesellschaft im Sinne einer perfekten Gesellschaft hat nie existiert und wird nie existieren. Das Leben – ob wir damit nun das Leben auf unserem Planeten insgesamt meinen oder jenes in unserer Gesellschaft, ob wir das Leben unseres Nachbarn ins Auge fassen oder unser eigenes – ist nie so eindeutig. Es ist weder schwarz noch weiß, sondern oft bunt und manchmal grau. Deswegen können wir es eben auch nicht einfach als gesund oder krank charakterisieren.
In den folgenden Kapiteln werden wir auf Dinge zu sprechen kommen – und es werden gar nicht so wenige sein –, die wir harsch kritisieren. Es wird um den sogenannten Turbokapitalismus gehen und um die völlige Ökonomisierung unserer Welt. Wir werden uns mit der Reduktion des Menschen auf sein Funktionieren beschäftigen, als wäre er nichts weiter als eine Maschine, wie Charlie Chaplin das in seinem FilmModerne Zeiten vor Jahrzehnten bereits so wunderbar und weitsichtig karikiert hat. Wir werden einen Blick werfen auf etwas, das wir Streckengeschäftsmentalität nennen, und unseren ausufernden Technikwahn hinterfragen. Und schlussendlich werden wir uns einer bestimmten Betrachtung der Welt widmen, die wir als Excelisierung unseres Lebens bezeichnen möchten, und einer falsch verstandenen Auffassung von Naturwissenschaft. – Was passiert, wenn mathematische Gleichungen auf menschliches Zusammenleben angewandt werden? Was ist das Risiko, wenn physikalische Gesetze zu Handlungsmaximen erhoben werden? Das sind Paradigmen, die von enormer Bedeutung sind und die unser Leben mehr prägen, als uns oft bewusst ist.
Wir kritisieren indes solche Entwicklungen nicht nur, sondern zeigen konkrete Lösungen und alternative Wege auf. Diese Lösungen und Vorschläge könnte man als Therapieschritte oder Medikamente auffassen, doch das wäre aus unserer Sicht anmaßend. Unsere Vorschläge sind nichts anderes als eben Vorschläge, es sind Ideen, keine erprobten Rezepte und schon gar keine Patentrezepte. Und insofern ist es, wenn wir doch an mancher Stelle den Vergleich zu einem Patienten, einem Arzt oder Krankenhaus ziehen, immer unter der Prämisse zu verstehen, dass wir nicht davon ausgehen, unsere Welt sei einfach »krank« und müsse wieder »gesund« werden.
Bei einem Patienten, der zum Arzt kommt und im Anamnesegespräch sitzt, dreht sich