ERSTES KAPITEL
1. Die Kanzel des Todes
Der Mann am Steuer des offenen Motorboots schlägt die Kapuze seines Anoraks mit einem jähen Ruck seines Kopfes nach hinten und lässt sich so vorsichtig auf die für sein Hinterteil deutlich zu klein geratene Sitzschale sinken, als fürchte er, sie könnte sich unter seinem Körpergewicht verbiegen oder gar brechen. Der zu dieser Jahreszeit penetrant herabrieselnde norwegische Landregen macht überraschend doch mal Pause. Die allmorgendlichen Dunstschleier über dem engen Lysefjord weichen milchigem Grau, das auch jetzt, im anbrechenden Frühjahr, nicht bereit scheint, sich anstandslos von der langen winterlichen Finsternis zu trennen.
Als der Mann seinen Parka ablegt, tritt darunter die Uniform eines norwegischen Polizisten zutage. Sein bestes Mannesalter hat er offenkundig bereits hinter sich. Mit seinem grauen, dichten Oberlippenwulst von Schnurrbart ähnelt er auf einige Entfernung dem älteren Josef Stalin. Von dem winzigen Anleger des Weilers Bratteli kommend, ist der „Georgier“, wie ihn seine Kollegen deshalb auch gerne scherzhaft nennen, auf dem Weg nach Stavanger, wo er um zwölf Uhr mittags seinen Kollegen vom Morgendienst ablösen wird. Bis dahin gilt es, in der Stadt noch einige private Besorgungen zu machen. In Gedanken geht er gerade zum wiederholten Male die wichtigsten Posten der Einkaufsliste durch, die ihm wie üblich von seiner Frau zusammengestellt wurde und die er dann wie üblich in der Eile des Aufbruchs auf dem Küchentisch vergessen hat.
Seine wenigen freibleibenden Valenzen befassen sich indes mit seinem Dienstplan für die laufende Woche, der einen ärgerlichen Schönheitsfehler aufweist. Um sich von der lästigen Sonntagsbereitschaft befreien zu können, die ihm turnusmäßig wieder mal zufällt, muss er sich inzwischen immer ausgefallenere Vorwände einfallen lassen, da ihm alle naheliegenden längst ausgegangen sind.
In Gedanken versunken und immer noch ein wenig schläfrig vom eher abgebrochenen als vollendeten Morgenschlummer, gestattet er dem Heck seines leichten GFK-Bootes, sich nicht zuletzt dank des fehlenden Kiels mit der Umdrehungsrichtung des Propellers zu solidarisieren und einen leichten Schlenker nach Steuerbord zu vollführen, der das Boot unmerklich näher an die Felsen entlang des nördlichen Fjordufers heranrückt. Ob seiner Enge, seiner relativ gradlinigen Ausrichtung und seines Mangels an Abzweigungen gleich