: Karen Grol
: Himmel auf Zeit Die vergessene Künstlerin Anita Rée
: ebersbach& simon
: 9783869152233
: 1
: CHF 16.20
:
: Romanhafte Biographien
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Anita Rée - Ausnahmekünstlerin zwischen den Welten! Anita Rée, eine der faszinierendsten Künstlerinnen der Avantgarde, war eine Wandlerin zwischen den Welten: als protestantisch erzogene Hamburgerin mit südamerikanischen und jüdischen Wurzeln, als selbstständige Künstlerin zwischen Tradition und Moderne und nicht zuletzt als eigenwillige Frau in einer von Männern dominierten Kunstwelt. Ermutigt von Max Liebermann, geschult an großen Vorbildern wie Renoir, Cézanne, Matisse und Léger, führt ihr Weg sie von der Alster über Paris nach Positano. Mit ihren Werken erwirbt sie sich in den 1920er-Jahren große Anerkennung. Doch die Zeitläufte bremsen Anita Rée immer mehr aus, sie flieht schließlich nach Sylt ... Mit eindringlicher Erzählkraft entfaltet Karen Grol das einfühlsame Porträt der Ausnahmekünstlerin Anita Rée und ihrer ergreifenden Lebensgeschichte.

Karen Grol, geboren 1964 in Westfalen, studiert Druckereitechnik an der Hochschule der Künste Berlin. Sie wird Ingenieurin, IT-Leiterin einer Buchdruckerei und Consultant bei einem Softwarekonzern. Die Gründung des Verlags STORIES& FRIENDS ist ein Herzens- projekt und die Rückkehr zu den Wurzeln. Nach über zehn Jahren Verlagsarbeit legt sie 2018 mit 'Mackintoshs Atem', ein Roman u?ber den schottischen Architekten Charles Rennie Mackintosh, ihre erste eigene literarische Arbeit vor. 'Himmel auf Zeit. Die vergessene Künstlerin Anita Rée' ist ihr zweiter Roman.

Teil 1
1910 – 1912


Schusterwerkstatt in Hittfeld


Der Unfall vor sieben Jahren mochte der Anfang von vielem gewesen sein. Vom Kopfschmerz, der bei einer Gehirnerschütterung gewöhnlich ist und vorübergeht. Vom Schwindel, der geblieben war. Aber von einer fortschreitenden Veränderung ihres Wesens bemerkte Anita selbst nichts. Ein simpler Sturz, eine Ungeschicklichkeit, mehr nicht. Alles andere beruhte schlicht auf Einbildung, war eine Erfindung der überängstlichen Mutter, die überall Absonderlichkeiten witterte, die Launen und Unvernunft hasste, besonders Anitas Wunsch, Malerin zu werden und ein Leben als Künstlerin zu führen.

»Sei nicht kindisch! Glaubst du tatsächlich, deine Kritzelei taugt zu mehr als zum Zeitvertreib, weist gar auf ein verstecktes Talent hin?«

Leider war die Mutter nicht allein mit ihren Zweifeln.

Anita hastete die Hittfelder Bahnhofstraße hinunter, das Gepäck schwer und unhandlich. Sie hielt inne, schob die verrutschte Zeichenmappe zurück, klemmte sie fest unter den Arm. Hals über Kopf hatte sie ihren Koffer gepackt, sich nur vom Schuster verabschiedet. Nach Hamburg, nach Hause, so schnell wie möglich, selbst wenn sie wieder in die Fänge der Mutter geriet.

Ein letztes Mal schaute sie zurück. Die Schusterwerkstatt geschrumpft zur Miniatur, kaum noch zu erkennen, aber sie konnte es sich vorstellen: Meister und Geselle hockten am Tisch vor dem Fenster, mit krummen Rücken über die Leisten gebeugt, in den konzentrierten Gesichtern Furchen von Anstrengung und Entschlossenheit. Keine Blicke für die Welt draußen. Dunkel war es. Eng ging es zu. Klagen fanden weder Raum noch Gehör, wenn die Männer die Sohlen formten, die Ledernutzen zuschnitten, sie energisch mit Nägeln befestigten und mit Geschick und Kraft vernähten. Anita hatte diese Szene seit Beginn ihrer Ausbildung bei Arthur Siebelist malen wollen. Sie hatte unzählige Wochen oben in der Mansarde über der Werkstatt logiert, wenn der Lehrer in den warmen Monaten aus seinem Hamburger Atelier auszog, die Freilichtmalerei anordnete und Schülerinnen und Schüler aufs Land ausschwärmen ließ.

Sechs Jahre Sommerschule. Sechs Jahre Siebelist.<