Teil 1
1910 – 1912
Schusterwerkstatt in Hittfeld
Der Unfall vor sieben Jahren mochte der Anfang von vielem gewesen sein. Vom Kopfschmerz, der bei einer Gehirnerschütterung gewöhnlich ist und vorübergeht. Vom Schwindel, der geblieben war. Aber von einer fortschreitenden Veränderung ihres Wesens bemerkte Anita selbst nichts. Ein simpler Sturz, eine Ungeschicklichkeit, mehr nicht. Alles andere beruhte schlicht auf Einbildung, war eine Erfindung der überängstlichen Mutter, die überall Absonderlichkeiten witterte, die Launen und Unvernunft hasste, besonders Anitas Wunsch, Malerin zu werden und ein Leben als Künstlerin zu führen.
»Sei nicht kindisch! Glaubst du tatsächlich, deine Kritzelei taugt zu mehr als zum Zeitvertreib, weist gar auf ein verstecktes Talent hin?«
Leider war die Mutter nicht allein mit ihren Zweifeln.
Anita hastete die Hittfelder Bahnhofstraße hinunter, das Gepäck schwer und unhandlich. Sie hielt inne, schob die verrutschte Zeichenmappe zurück, klemmte sie fest unter den Arm. Hals über Kopf hatte sie ihren Koffer gepackt, sich nur vom Schuster verabschiedet. Nach Hamburg, nach Hause, so schnell wie möglich, selbst wenn sie wieder in die Fänge der Mutter geriet.
Ein letztes Mal schaute sie zurück. Die Schusterwerkstatt geschrumpft zur Miniatur, kaum noch zu erkennen, aber sie konnte es sich vorstellen: Meister und Geselle hockten am Tisch vor dem Fenster, mit krummen Rücken über die Leisten gebeugt, in den konzentrierten Gesichtern Furchen von Anstrengung und Entschlossenheit. Keine Blicke für die Welt draußen. Dunkel war es. Eng ging es zu. Klagen fanden weder Raum noch Gehör, wenn die Männer die Sohlen formten, die Ledernutzen zuschnitten, sie energisch mit Nägeln befestigten und mit Geschick und Kraft vernähten. Anita hatte diese Szene seit Beginn ihrer Ausbildung bei Arthur Siebelist malen wollen. Sie hatte unzählige Wochen oben in der Mansarde über der Werkstatt logiert, wenn der Lehrer in den warmen Monaten aus seinem Hamburger Atelier auszog, die Freilichtmalerei anordnete und Schülerinnen und Schüler aufs Land ausschwärmen ließ.
Sechs Jahre Sommerschule. Sechs Jahre Siebelist.<