DAS WERDENDE ICH
MYTHEN DER MENSCHWERDUNG
So haben wir uns also in die Tiefen und Höhen unserer geistigen Welt gewagt, Constanze. Die Logik des Herzens war unser Führer durch diese Gefilde und hat sie uns nahegebracht. Jetzt wandern wir zurück und fragen in der Wiege unserer eigenen Kultur nach dem Werden des Menschen, seiner Vernunft, seiner Moral und – seiner Hoffnung. Wann begann sich der Mensch von den Göttern zu lösen, die überall ihre Hand im Spiel hatten und daher ständige Begleiter und Herren aller Ereignisse von Belang waren? Deshalb waren diese der Natur ausgelieferten Geschöpfe ja bemüht, die Götter mit Opfergaben und Verehrung günstig zu stimmen und zu versöhnen, wie die Mythen in allen Kulturen berichten. Erst nach und nach emanzipierte sich der Mensch zu einem freien Wesen. Aber immer noch glaubt er an höhere Gewalten, er betet um Hilfe, sucht Schutz und dankt dafür.
Das erste bekannte Dokument dieser Entwicklung des menschlichen Selbstbewusstseins, der eigentlichen Menschwerdung, ist das Epos von Gilgamesch. Die sicherlich so ähnlich wie die Genesis der Bibel öfter überarbeitete und zunächst mündlich überlieferte erste schriftliche Fassung auf Tontafeln ist etwa viertausend Jahre alt. Sie wurde Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckt und handelt von einem König, der alle anderen übertrifft, wahrscheinlich eine historische Figur aus Uruk. Das zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris gelegene Mesopotamien (Zwischenstromland) hält man für die Wiege unserer Kultur, wie du weißt. Dieser König oder Kriegsherr Gilgamesch und sein Begleiter Enkidu, eine etwas widerborstige Figur, begeben sich auf die Suche nach der Unsterblichkeit. Am Ende muss Gilgamesch einsehen, dass doch nur die Götter sie besitzen. Es ist bemerkenswert, dass Gilgamesch, wie der Titelheld Odysseus in der viel später entstandenenOdyssee, in die Unterwelt hinabsteigen darf, dabei aber bestimmte Regeln beachten muss. Über Gilgamesch kann ich dir nicht sehr viel mehr sagen, aber in derOdyssee trifft Odysseus im Hades seine ehemaligen Freunde und toten Kampfgefährten. Wir hatten zur schriftlichen Matura in Griechisch eine dieser Szenen des 11. Gesangs zu übersetzen, es war die bewegende Begegnung des Odysseus mit Achilles in der Unterwelt.
Ich glaube, dass mit der Frage nach Leb