Erst waren es nur leise Laute, die noch nicht ahnen ließen, was sich wenige Meter von mir entfernt abspielte. Ich hatte einen pickepackevollen Tag hinter mir. Viele Gespräche, Video-Konferenzen, Detailarbeit. Ich musste den Kopf freikriegen und raus an die frische Luft, ein paar Meter gehen. Es war noch hell.
Nach Wochen ging ich jetzt wieder vorbei an dem kleinen Lokal, das mit seiner leichten Holzbauweise aus bordeauxroten Brettern, der gläsernen Schwingtür, seinem in meeresblau gefassten Namen »VIVA« und den ganzjährig ausgestellten Strandkörben an den Urlaub an der See erinnern will. Jetzt aber waren die Strandkörbe trotz der recht warmen Abendluft abgedeckt wie im Winter. Vor den gestapelten Korbstühlen ein rotweißes Flatterband. In der Ecke die wenigen Tische, unordentlich verschachtelt, fast wie Gerümpel. Auf dem Boden lag ein Besen. Es war, als hätte man die städtische Strandkneipe wegen heraufziehendem Unwetter kurzerhand geschlossen. Unter den weichen Schuhsohlen spürte ich das harte Kopfsteinpflaster aus Basalt. Wie so oft zog mich mein Blick bereits in die Lucienvörder Straße, hin zu den wunderschönen, weiten Überschwemmungswiesen der Innersten. Erst vor Kurzem hatte ich erfahren, dass der Straßenname an das im Mittelalter aufgegebene Dorf Lutzingeworden erinnert, das sich einst an der heutigen Stelle des Domfriedhofs befand. Nur: Irgendwas war anders an diesem Abend. In dem grünen Wohnviertel mit Kastanien und Linden vor roten Ziegelbauten, kleinen Villen und Fachwerkhäusern sangen die Vögel besonders intensiv. Eigenartig. Es war, als schwirrte die Luft. Im ersten Augenblick konnte ich mir keinen Reim darauf machen.
Bis ich diese Stimme eines Mannes hörte. Er redete nicht und schrie auch nicht. Er sang. Sang so, dass man hören konnte, dass er das nicht zum ersten Mal tat – sang voller Inbrunst. Die Stimme wurde lauter, ich kam offensichtlich näher, dann sah ich einige Leute an einem Zaun stehen. Es sah aus, als würden sie durch den Zaun in den Hof gucken. Unmittelbar hinter dem grauen eisernen Zaun versperrte eine dichte Hecke aus Lebensbaum den Blick in den Hof. Dennoch spähten die Leute durch die Hecke, die Köpfe leicht himmelwärts. Mehr noch als sie linsten, schienen sie zu lauschen, wie gebannt. Ich blieb ebenfalls stehen, in gebührendem Abstand, und hörte plötzlich nicht nur die Stimme des Mannes, sondern weitere Stimmen und dann sogar den Text: »Die Gedanken sind frei…« Erblickte den Mann, wie ein Vorsänger, und viele Nachbarn auf ihren Balkonen oder aus dem Fenster heraus, mit einem Tablet oder Smartphone, vermutlich um den Text zu lesen. »Kein Mensch kann sie wissen…« Je mehr Strophen, desto mehr Stimmen und schließlich fast ein Chor: »Man kann ja im Herzen stets lachen und scherzen und denken dabei: Die Gedanken sind frei.« Ich spürte eine Kraft, die mich ergriff, und ein Gedanke kam mir, der tief in mir etwas anregte, etwas aufbrach: »Wir sind nicht allein.« Dann: »Das gibt Halt. Das hilft weiter.« Und später noch mehr: »Das hat’s gebracht!«
»Das hat’s gebracht«, damit hängt eine Frage zusammen, die mich zutiefst beschäftigt, weil sie uns überall im Alltag begegnet und oft immer dann, wenn es um existenzielle Dinge geht, etwas argwöhnisch beäugt wird. Sie lautet: »Was bringt’s mir? Was bringt’s uns?« Oder: »Bringt das mich weiter – und wie?« Der Reflex auf diese Fragen ist gern der Zeigefinger, das Kopfschütteln, Hinweise auf Oberflächlichkeit, solche Sachen eben. Nur warum? Mal ehrlich, was soll falsch daran sein? Machen wir doch ständig: Laufen gehen, was bringt’s? Den Dampfgarer verwenden, was bringt’s? Dieses Buch oder jenes lesen, was bringt’s? Und ausgerechnet, wenn es um’s Ganze geht, um unser Leben im Kern, dann ist die Frage verboten? Nein, die verbotene Frage darf und soll gestellt werden: Was bringt’s, wenn wir durch schwere Zeiten kommen und die angenehmen auskosten wollen? Was bringt uns Spaß und Freude, Trauer und Trost? Das sind keine oberflächlichen Fragen, sondern sie zielen auf den Kern ab: unserer Beziehungen, unserer Gesellschaft, unserer Überzeugungen. In diesem Buch soll es also dezidiert darum gehen: Was bringt’s?
Die Eingangsszene, die sich in Hildesheim abgespielt hat, die aber gefühlt in vielen Städten und Ländern dieser Welt hätte stattfinden können, vielleicht in anderen Sprachen und mit Musikinstrumenten, hat sich ereignet in den Tagen der Corona-Krise. Sie ist noch jetzt extrem präsent für mich. Sie erinnert mich auch an die kritischen Zeilen von Ingeborg Bachmann, die sich in ihrem GedichtReklame vor über fünfzig Jahren fragte, was bleibt, wenn leere Floskeln und Gute-Laune-Sprüche der Unterhaltungsindustrie keinen Halt mehr geben. Die fragt, wohin wir gehen, wenn es eng wird. Wenn es dunkel und wenn es kalt wird. Was geschieht, wenn wir ans Ende denken. Wenn Totenstille eintritt. Wenn das Reklamegedudel uns Sorgenfreiheit vorgaukelt, auf existenzielle Fragen nicht antwortet, uns einlullt und vertröstet.
Eine der Erfahrungen, die jene Corona-Tage für mich geprägt haben. In diesen Tagen wurden die Arbeiten an diesem Buch abgeschlossen, und so sind es auch die heiteren, die es prägen, neben den traurigen und niederschmetternden. Wir alle haben Erfahrungen in der Krise gemacht, die uns prägen. Schlechte und solche, die wir gerne nicht gemacht hätten und am liebsten vergessen würden. Ich denke an Geschichten hier aus Deutschland oder von meinen Ordensmitbrüdern aus Norditalien. Leid, das jedes Gerede, das Krise immer sofort als Chance sehen will, zynisch wirken lässt. Aber eben auch Erfahrungen, die uns längst vergessene Schätze in der Gesellschaft, den Familien und uns selbst, in unseren Haltungen, Werten und in unserem Glauben, entdecken lässt. Wir müssen in diesen Tagen neue Antworten finden und neue Fragen stellen. Technische und wissenschaftliche, medizinische und gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische, spirituelle und religiöse. Dabei hören und lesen wir in diesen Tagen vor allem eine F