Kapitel 2
Linker Hand der schmalen Straße, die sich in zahllosen Windungen ins Herz des Bjelasnica-Massivs schlängelte, waren die Abhänge sacht und bewaldet, rechter Hand hingegen sah man direkt in den Abgrund, so daß Megans Blick frei über die weite, schneebedeckte Ebene von Sarajewo schweifen konnte, die in violetten Dunst getaucht war, aus dem hier und da das Kuppeldach einer Moschee blitzte.
Megan war auf der Suche nach dem Austragungsort des Abfahrtslaufs der Herren, an dem einer ihrer Klienten teilnahm, Conrad Soerli, in England geborener Sohn norwegischer Eltern. Er war der beste Skiläufer, den die britische Mannschaft seit vielen Jahren gehabt hatte. Außerdem war er die Galionsfigur des Multis Vanguard Sports, der Welt größter Hersteller von Skiern sowie Hauptsponsor von Megans Klienten. Megan, Vanguard und das britische Team hofften gleichermaßen, daß Conrad bei den Olympischen Winterspielen im kommenden Jahr eine Goldmedaille gewinnen würde, und Vanguard hatte die spektakulären Erfolge des blonden Skirennläufers mit einem verschwenderisch teuren Werbefeldzug begleitet.
Darüber hinaus erhoffte sich Megan auch Vertragsabschlüsse mit neuen, noch unbekannten Talenten. Sieger waren überaus schwer zu finden, doch Megan hatte das richtige Gespür dafür. Diesem Gespür verdankte sie ihre Position, ihr Spitzengehalt und ihre Gewinnbeteiligung. Sie war ausgezeichnet im Verhandeln; dessen war sie sich bewußt, und sie war stolz auf ihre Fähigkeiten. Einer der Gründe dafür, pflegte sie zu behaupten, war darin zu suchen, daß sie stets ihrem Instinkt folgte.
Schließlich fand sie die Abzweigung und folgte dem engen Pfad quer durch das Malo-Polje-Tal bis zum Fuße des Berges Igman. Vor den Skiliften hatte sich bereits eine beträchtliche Menschenmenge versammelt, doch das Rennen hatte noch nicht begonnen. Eine Mischung aus Erwartung, Heiterkeit und Spannung lag in der Luft, die gewisse Stimmung, zu der auch das Bild gehörte, das die hohen, schlanken Fichten und Föhren unter ihren Schneelasten boten, das Knirschen und Knacken der frischen Schneedecke unter den Stiefeln, die Rufe und Schreie aus der Menge, die mehrfach widerhallenden Echos der Lautsprecher, über die Namen und Nummern der Teilnehmer verlesen wurden. Megans Augen schmerzten vor Kälte, ihre Füße in den neuen Schweizer Moonboots brannten und kribbelten, und sie verspürte geradezu überschäumende Lebensfreude. Aus der Ferne kam das Geheul eines Hundes, das Echo hallte unheimlich durchs ganze Tal. Vor Megan hob sich düster der Bjelasnica mit seinen verschneiten Wäldern und frostigen Nebeln über zweitausend Meter hoch in den blassen Himmel.
Michel Juric war da und sah überaus slawisch aus in seiner Schaffelljacke und Pelzmütze. Seine dunklen Augen glänzten vor Aufregung. Er lächelte und winkte, und Megan – zu gutgelaunt, um ihm sein Verhalten nachzutragen – lächelte zurück, einfach aus Freude darüber, dazuzugehören. Es war viel kälter, als sie zunächst geglaubt hatte. Sie stellte ihren Kragen auf und zog ihre Mütze über die Ohren, als sie sah, daß Michel auf sie zugelaufen kam.
»Haben Sie den Wolf heulen hören?«
»Machen Sie Witze? Ich hab’ das für einen Hund gehalten.«
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Das Rennen muß vielleicht abgesagt werden«, fuhr er besorgt fort. »Es ist zu gefährlich. Wenn sich dermaßen viele Wolken um den Gipfel zusammenballen, bedeutet das, daß ein Sturm aufzieht. Nicht einmal die Wölfe mögen dieses Wetter. Hier in den Bergen können die Temperaturen innerhalb kürzester Zeit um bis zu vierzig Grad sinken. Das ist für alle, die sich nicht auskennen, eine Todesfalle.«
Als das Rennen schließlich begann, war es bitter kalt geworden. Böige Winde zerrissen die Nebelschleier. Megan starrte angestrengt zum Gipfel, um einen Blick auf die einzelnen Rennläufer zu erhaschen, die einer nach dem anderen wie Schemen aus den Wolken auftauchten.
»Achten Sie auf die Nummer fünfzehn!« rief Michel ihr zu, wobei er versuchte, das Getöse des Lautsprechers zu übertönen. »Rob Scott, ein Amerikaner. Ich hab’ ihn in Österreich gesehen, dort hat er mich sehr beeindruckt.«
»Ich kenne ihn!« brüllte Megan gegen den Wind zurück. »Sie werden es kaum glauben, aber vor ein paar Jahren hab’ ich ihn noch trainiert!« Wann war das, versuchte sie sich zu erinnern, vor acht Jahren – oder gar schon vor neun? Er war dreizehn gewesen und schon damals sehr gut; es hatte nicht lange